0459 - Die Herrin der Drachen
aber im Gegensatz zu ihm hatte sie den Grund dafür auch noch nicht erkannt. Für sie, die immer auf der Schattenseite des Lebens gestanden hatte, war es unvorstellbar, daß jemand sie lieben könnte - und für sie selbst hatte es die Liebe auch noch nie gegeben.
Bruderliebe ja. Aber mehr nicht. Nicht einmal ein Flirt in der Schulklasse oder mit den Jungs aus der Straße. Dafür war nie Zeit gewesen. Sie war eine Kreolin, ein Mischling, ein Bastard aus den Slums. Wer interessierte sich schon für sie, ohne sie ausnutzen zu wollen?
Hier aber war etwas anders. Ganz anders, schon von der ersten Begegnung an. Ohne daß es ihr klar wurde, hatte ihr Unterbewußtsein sich von Anfang an gegen die Vorstellung gesperrt, daß er das Böse verkörperte. Obgleich sie ihn als Höllenfürst kennengelernt hatte und als jemanden, der ihren Bruder immer wieder bedrängte und ihn sogar in die Tiefen der Hölle verschleppt hatte, um ihn später wieder freizugeben.
»Angelique«, hörte sie ihn sagen und spürte seine Fingerkuppen auf ihrer Wange. »Angelique, ich war nie Richter, und ich war nie Henker! Ich wollte nur ausloten, wozu ich imstande bin, und nun weiß ich es! Damit ist es für mich aber auch uninteressant geworden…«
»Ich verstehe nicht…«
Julian lächelte.
»Alle haben sie geglaubt, es sei ernst. Dabei wollte ich nur wissen, wieweit ich gehen kann. Niemand hat es geschafft, mir meine Grenzen zu zeigen, außer ich selbst. Sie sind vor mir in den Staub gefallen. Oh, sie haben mich gehaßt, sie hassen mich immer noch. Aber sie haben sich selbst dann nicht gegen mich erhoben, als ich einen der ihren ausschaltete! Erinnerst du dich an deine Entführung, als du einem Dämon geopfert werden solltest? Als ich den Dämon erschlug, hat keiner in der Schwarzen Familie die Hand gegen mich erhoben! Sie alle haben es akzeptiert, haben sich vor mir gefürchtet! Das war keine Herausforderung mehr. Und es hat mir auch zwei Dinge gezeigt.« [3]
»Was für Dinge?« Und sie fragte sich, warum sie so ruhig neben ihm sitzen konnte. Neben ihm, dem Überteufel.
»Das eine ist: wenn man alles hat, wenn man alles beherrscht, dann macht es keinen Spaß mehr«, sagte er. Er lauschte seinen eigenen Worten. Zum erstenmal kleidete er die Gedanken in Worte, die er in den letzten Tagen für sich durchgespielt hatte, und seine Erkenntnis wurde fester denn je. »Du weißt, daß ich ein Träumer bin, im doppelten Sinn, wie dein Bruder dir erklären kann. Aber manchmal träume ich auch von Dingen, und wenn ich sie verwirklicht habe, interessieren sie mich nicht mehr. Die Herrschaft, die Macht über alles, war so ein Traum, und ich erfüllte ihn mir. Aber ich sah auch, daß ich dabei einen falschen Weg gegangen bin. Ich bin stets bevormundet und behütet worden. Auch, als ich schon für mich selbst sorgen konnte, als ich mich selbst schützen konnte, haben sie mich behütet und mir befohlen, was ich zu tun und zu lassen hatte. Vielleicht habe ich deshalb überreagiert. Ich wollte frei sein, und ich wollte es ihnen zeigen, meinen Eltern und später auch Professor Zamorra, ich wollte es ihnen einfach zeigen, daß ich mich selbst schützen kann. Daß ich jene, die mich umbringen wollten, zu meinen Sklaven machen konnte, sobald ich wollte.«
Angelique schluckte.
»Deshalb also… deshalb hast du dich zum Herrn der Teufel gemacht…«
»Ja, deshalb. Die, welche glaubten, in mir eine Gefahr zu sehen, die ausgemerzt werden mußten, habe ich mir untertan gemacht. Sie hatten recht: ich bin eine Gefahr für sie. Aber ganz anders, als sie immer dachten. Ich wurde ihr Herrscher. Ich habe mit ihnen gespielt, mit den Dämonen und Teufeln und Geistern. Aber es hat mich nicht befriedigt. Es war zu leicht, Angelique. Es war nur ganz zu Anfang eine Herausforderung. Dann nicht mehr. Ich fand keinen wirklichen Widerstand. Und ich sah, daß mein Weg nicht richtig war. Ich muß einen anderen Weg gehen. Nicht den der Schwarzen Magie. Auch nicht den, welchen Zamorra und seine Freunde gehen.«
»Was meinst du damit?« fragte sie leise.
»Das zweite Ding, das ich erkannte«, wich er der Frage teilweise aus, »ist, daß es hier in Baton Rouge ein Mädchen gibt, das mein Herz fing. Angelique…«
Sie erstarrte, straffte sich.
Jetzt war es Julian, der leise wurde Sein Gesicht rötete sich.
»Ich… ich liebe dich, Angelique.«
***
Zamorra preßte die Lippen zusammen. Das Emblem der Dynastie! Jetzt wußte er auch, woher ihm die Technik dieser Flugscheibe so bekannt
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