046 - Der Schatten des Werwolfs
drehen schien. Mir wurde übel.
Nach einigen Minuten fühlte ich mich besser. Eine Gier war in mir, die ich nicht erklären konnte. Mein Körper bebte, und Speichel tropfte über meine Lippen, rann über das Kinn. Ich wischte ihn fort. Dann kam der Schmerz, plötzlich und ohne Vorwarnung. Ich stieß einen schrillen Schrei aus und riss die Arme hoch. Meine Hände hatten sich verändert. Sie waren zu Klauen geworden und mit einem dichten braunen Pelz bedeckt. Für einige Sekunden konnte ich keinen klaren Gedanken mehr fassen. Ich sprang wie verrückt hin und her und riss mir dabei die Kleider vom Leib. Meiner Umgebung schenkte ich keine Beachtung. Ich schien plötzlich alles durch eine Nebelwand zu sehen.
Ich rannte los, stieß mir den Kopf, achtete aber nicht darauf. Ich raste an den Häusern vorbei, schrie wie verrückt, fuchtelte mit den Armen in der Luft herum, stolperte, fiel nieder, rappelte mich auf und raste weiter. Irgendwann blieb ich unter einer Gruppe Kokospalmen stehen. Die Schmerzen waren verschwunden, und ich konnte wieder normal sehen.
Vor mir erstreckte sich eine kleine Lagune. Der Mond stand hoch am Himmel und das Wasser schimmerte dunkel und geheimnisvoll. Zögernd kam ich näher und blickte in das Spiegelbild, das mir das Wasser zeigte. Meine Vermutung hatte mich nicht getäuscht. Ich hatte mich in einen Wolfsmenschen verwandelt. Ein abscheuliches Geschöpf. Der Körper war mit einem dichten, dunklen Pelz bewachsen – ich hatte lange Arme und Beine, und die Finger- und Fußnägel hatten sich zu Krallen umgebildet. Ich beugte mich vor. Mein Gesicht war noch menschenähnlich. Die Nase war normal, die Augen mehr oder minder auch. Das Maul sah affenartig aus, und deutlich waren die langen Ohren an meinem Kopf zu sehen. Ronald Chasens Körper war mir schon unangenehm genug gewesen, doch als Wolfsmensch fühlte ich mich noch unbehaglicher.
Ich hatte Hunger. Entsetzlichen Hunger, der wie ein Schwert in meinen Eingeweiden wühlte. Und ich wusste, wonach es mir gelüstete. Nach Fleisch und nach Blut: Ich wollte meine Zähne in die Kehle eines Menschen schlagen. Meine Hände krallten sich zusammen. Ich kämpfte gegen die Gier meines unmenschlichen Körpers an, riss den Mund auf und stieß einen Schrei aus, der so schaurig klang, dass ich zusammenzuckte. Ich musste gegen den Zwang ankämpfen. Ich durfte mich nicht von meinem Verlangen hinreißen lassen. Ich ging gebückt um die Lagune herum. Einmal blieb ich stehen, als ich aus der Ferne laute Schreie hörte, in die sich das heisere Gebell einiger Werwölfe mischte. Und langsam kehrte meine Erinnerung zurück. Ich erinnerte mich an das Gespräch, das ich mit den Oppositionsdämonen geführt hatte.
Ich war seit zwei Tagen in London.
Es war mir gelungen, Coco zu retten, doch ich hatte sie nicht befreien können. Olivaro war mir zuvorgekommen. Ich hoffte, dass es meiner Lebensgefährtin aus eigener Kraft gelingen würde, sich von Olivaro zu lösen.
Und meine ganze Hoffnung setzte ich auf die Dämonengruppe, mit der ich mich verbündet hatte. Ich war sicher, dass sie sich mit mir in Verbindung setzen würde.
Und ich täuschte mich nicht.
Es war nach Mitternacht. Lilian war schon schlafen gegangen, und ich saß im Wohnzimmer, trank einen Whiskey und rauchte eine Zigarette, als es mir schien, dass mich eine Stimme rief. Das Rufen wurde drängender. Ich stand auf, hörte das Aufheulen eines Motorrads, verließ das Wohnzimmer und trat vor das Haus.
»Sie erwarteten wohl meinen Besuch, Hunter?«, fragte Demur Alkahest, den ich in letzter Zeit schon einige Male getroffen hatte. Er gehörte den Oppositionsdämonen an.
Ich nickte und sperrte die Tür ab.
Wie üblich war Alkahest ganz in Leder gekleidet. Die dunkle Motorradbrille und eine enganliegende, schwarze Haube ließen nicht viel von seinem Gesicht sehen.
»Steigen Sie auf, Hunter!«, sagte Alkahest, und sein schmaler Mund verzerrte sich zu einem höhnischen Grinsen.
»Wohin bringen Sie mich?«
»Warum so neugierig? Sie werden doch keine Angst haben, oder?«
Ich antwortete nicht, setzte mich hinter ihm auf die schwere Maschine und saß kaum, als er auch schon losfuhr. Besorgt klammerte ich mich an ihm fest. Ich war ja selbst kein sehr langsamer Fahrer, aber was Alkahest aufführte, war abnormal. Die Maschine heulte auf, und ich glaubte zu fliegen.
Die Fahrt dauerte nicht einmal eine Viertelstunde, aber mir kam sie wie eine Ewigkeit vor.
Der Dämonenrocker bog in eine kleine Gasse ein, drosselte
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