0470 - Die blutrote Nacht
sarkastisch. Zur Zeit des Karnevals brauchte man sich wohl nicht sonderlich um die Gäste zu bemühen. Sie kamen ja sowieso.
Also ging sie hinunter in den Speisesaal, um sich zu stärken. Sie war froh, daß sie Fenrir nichts einpacken lassen mußte; sie hatten tagsüber noch für den Wolf eingekauft, der ja nicht verhungern durfte. Der arme Wolf war ja auch fast nur ein Mensch…
Bloß Freßnapf und Wasserschale zu verstecken, wenn das Zimmermädchen die Räume in Ordnung brachte, war ein kleines Problem - schließlich brauchte offiziell niemand zu wissen, daß hier ein Raubtier logierte. Und - Fenrir hinterließ eine deutliche Duftnote…
Gesättigt und daher etwas zufriedener mit der Welt kehrte Nicole in den vierten Stock zurück. Fenrir konnte noch nicht mit Neuigkeiten aufwarten. Einer Eingebung folgend ging Nicole hinüber ins andere Zimmer, in dem Zamorra und die Silbermond-Druidin festgenommen worden waren. Careio hatte die Tür zwar geöffnet, später aber nicht wieder abgeschlossen; sogar der Schlüssel steckte noch und war von niemandem entfernt worden.
Ein Zimmer wie jedes andere. Hier und da noch Reste des Pulvers, mit dem man versucht hatte, Fingerabdrücke zu fixieren. Nicole trat zur Balkontür und öffnete sie. Nach dem, was Fenrir ihr übermittelt hatte, mußte der Vampir sein Opfer draußen auf dem Balkon getötet haben.
Nicole trat hinaus.
Die Nachtluft war immer noch heiß. Und es sah nicht so aus, als würde es in den kommenden Stunden wesentlich kühler werden. Vielleicht , dachte Nicole, sollte man den europäischen Karneval auch in die Sommermonate verlegen, statt das Risiko von Kälte, Regen und Orkanen auf sich zu nehmen. Hier in Rio de Janeiro waren sie schlauer. Auf der Südhalbkugel der Erde war jetzt die heißeste Sommerzeit des Jahres.
Ganz davon abgesehen, daß hier am südlichen Wendekreis ohnehin ganz andere Temperaturen herrschten als in Europa - ganzjährig.
Das schlug sich natürlich auch auf die Stimmung nieder.
Nicole erwischte gleich zwei Moskitos mit einem Schlag, die sich blutdurstig auf ihrer Haut niederlassen wollten. Sie erinnerte sich daran, daß es spätestens in der kommenden Nacht besser war, sich mit der insektenabschreckenden Salbe einzureiben. Licht und Schweiß lockten diese kleinen Bestien in Scharen an. Und José Maneiras Balkon würde davon kaum verschont bleiben…
Sie sah in die Nacht hinaus.
Unter dem Balkon lag ein relativ großer Hinterhof, der als Stellfläche für Gäste-Autos diente. Er wurde von anderen Hausfassaden gesäumt, auf deren Anblick bei Tageslicht Nicole gerne verzichten konnte. Sie war froh, daß ihr eigener Balkon nach vorn, zur Straße hin, lag - die Schallisolation war trotz aller Mängel, die man diesem Haus sonst nachsagen konnte, erstklassig und der Straßenlärm störte deshalb nicht. Und die gegenüberliegende Häuserzeile sah zur Straße hin jedenfalls wesentlich freundlicher aus als diese Hinterhofatmosphäre, die sogar bei Dunkelheit noch bedrückend wirkte.
Angenehmer war da schon der Nachthimmel. Zwei, drei Sternen gelang es tatsächlich, die Smogglocke über der City zu durchdringen, aber in dem diffusen Lichtschimmer glaubte Nicole plötzlich einen Schatten zu sehen, der flog.
Lautlos in großer Höhe…
Aber für ein Flugzeug war der Schatten nicht hoch genug, und er zeigte auch keine Positionslichter. Ein Flugzeug war's nicht, Vögel schliefen nachts, und mit Superman war auch nicht zu rechnen. Was also war es dann?
Der Vampir…
In diesem Augenblick bedauerte Nicole, daß sie die Waffe drüben im eigenen Zimmer zurückgelassen hatte. Mit einem gezielten Laserblitz hätte sie den Vampir vom Nachthimmel fegen können. Der Dhyarra-Kristall lag natürlich auch drüben, und Zamorras Amulett… sicher, sie hätte es mit einem einzigen Gedankenbefehl zu sich rufen können, und es wäre im gleichen Moment in ihrer Hand gelandet. Aber sie zweifelte daran, ob es über diese gewaltige Entfernung auf den Vampir wirken würde. Vielleicht würde es ihn nicht einmal registrieren, weil er zu hoch oben am Himmel schwebte.
Nicole überlegte und rechnete die Flugbahn aus. Wenn der Vampir sie nicht änderte und auch seine Geschwindigkeit beibehielt, hatte sie dann noch Zeit, die Waffe zu holen? Aber im nächsten Moment zeigte der Vampir ihr, daß er sehr wohl Kurs und Tempo änderte, und das gleich dreimal hintereinander innerhalb von zwanzig Sekunden.
Wenn sie ihn jetzt aus den Augen verlor, fand sie ihn später nicht
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