0473 - Botin des Unheils
kam wieder auf die Beine. Ein dünner Blutfaden lief auf der aufgeplatzten Unterlippe über sein Kinn. Sein Unterkiefer schmerzte, als sei er verformt worden, aber die Zähne paßten noch normal aufeinander. Zamorra dankte seinem Schhöpfer für sein stabiles und gesundes Gebiß. Bei anderen wären möglicherweise die Zähne geflogen.
Zwei, drei Männer sprangen heran, unter ihnen auch André. Pascal Lafitte blieb am Tresen. Prügeleien gehörten nicht zu seiner Welt.
Zamorra stoppte seine Helfer mit einer Handbewegung.
Gelassen schenkte sich Landemon wieder ein, trank und füllte sofort wieder nach, um erneut zu trinken. »Zamorra, ich habe dir gesagt, du sollst mich in Ruhe lassen! Geh zur Hölle und nimm deinen verdammten Dreckswolf mit!«
Damit mußte Fenrir gemeint sein, der sich in letzter Zeit angewöhnt hatte, seine Streifzüge um Château Montagne immer weiter auszudehnen und wahrscheinlich deshalb neuerdings nicht mal mehr pünktlich zum Frühstück erschien. Plötzlich glaubte Zamorra dieses Verhalten in einem neuen Licht zu sehen, aber trotzdem konnte er nicht wirklich daran glauben, daß Fenrir neuerdings verwilderte.
Dafür war er längst zu wenig Tier. Sein Intellekt hielt Triebe und Instinkt unter Kontrolle, besser, als bei manchem Menschen…
Plötzlich stand Nicole neben Zamorra. »Laß ihn in Ruhe«, bat sie leise. »Du kannst im Moment nichts für ihn tun.«
Fragend sah Zamorra sie an.
Sie verstand die Frage und beantwortete sie durch leichtes Schließen der Augenlider. Zamorra seufzte ergeben. Nicole hatte wohl Gedankenbilder des Försters aufgenommen und mußte einen triftigen Grund haben, Zamorra jetzt zum Rückzug zu bewegen. Er gab nach. »Jetzt oder später?« fragte er leise.
Sie zeigte ihm fünf Finger. Das hieß: fünf Minuten. In fünf Minuten würde sie den Schrankraum in Richtung Toilette verlassen. Dort wollte sie unter Ausschluß der Öffentlichkeit mit ihm darüber reden. Also mußte es wichtig sein, weil es sonst Zeit bis später gehabt hätte - oder sie wollte es hinter sich bringen, damit die Stimmung, die vorhin so schön hochgeschwappt war, nicht weiter gestört wurde.
André hob den Stuhl auf, der mit Zamorra umgefallen war, warf Landemon einen giftigen Blick zu und kehrte mit den beiden anderen Männern zur Theke zurück, wo Lafitte sich langweilte. Auch an den anderen gutbesetzten Tischen Wandte die Aufmerksamkeit der Gäste sich wieder anderen Dingen zu. Die Prügelei fand nicht statt, und das war ganz gut so. Untereinander verhaute man sich nicht. Man hielt zusammen gegen die Leute aus den Nachbardörfern, und auch die verdienten eine Abreibung nur, wenn ihre Fußballmannschaften so frech waren, beim allwöchentlichen Freundschaftsspiel zu gewinnen. Nach der Prügelei fand man sich dann jeweils wieder zusammen und trank einander unter den Tisch. Hier im ländlichen Raum war die Welt eben noch vollkommen in Ordnung.
» Merde«, murmelte Mostache hinter der Theke. »Daß Enrique mal zum Säufer würde… das hätte ich nie für möglich gehalten. Seit einer Woche macht er das jetzt schon. Jeden Tag zieht er ’ne ganze Flasche durch, und Marie-Claire hat mir verraten, daß er neuerdings auch sehr großzügig Schnaps bei ihr einkauft…«
Marie-Claire stand den ganzen Tag in ihrem kleinen Kaufladen, der erstaunlicherweise immer noch Umsatz hat, obgleich die Supermärkte in Feurs und Roanne eine mächtig Konkurrenz darstellten. Aber die machten nicht nachts um elf oder drei noch die Hintertür auf, wenn man lange nach Ladenschluß feststellen mußte, etwas Lebenswichtiges einzukaufen vergessen hatte, oder wenn sonntags unangemeldeter Besuch kam und weder Kaffee noch Kuchen oder eine Flasche Wein im Haus waren. Für solche Notfälle war Marie-Claires kleiner Laden gut. Über Ladenschlußzeiten sprach niemand; wo kein Kläger war, gab es auch keinen Richter.
»Seit einer Woche?« wunderte sich Nicole. »Warum verkaufst du ihm den Schnaps eigentlich immer noch? Was ist das für ein höllisches Spiel?«
Mostache zuckte mit den Schultern und breitete die Arme aus, die Handflächen nach vorn gesteckt. »Zamorra, wenn ich ihm das Zeug nicht gebe, holt er es sich anderswo. Mit sich reden läßt er nicht und das hast du ja selbst gerade an der eigenen Unterlippe erfahren. Hier«, er griff unter die Theke und reichte Zamorra ein sauberes, feuchtes Tuch, damit der Parapsychologe sich den antrocknenden Blutfaden vom Kinn tupfen konnte. »Marie-Claire hat ihm vorgestern auch
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