0478 - Der Friedhof der Lebenden
Augen ausgekratzt. Wie konnte er nur so einfach dastehen, statt sie in die Arme zu nehmen und ihr zu zeigen, daß mehr zwischen ihnen war als nur eine Bekanntschaft? Sie sehnte sich nach seiner Wärme, nach seiner Berührung, und sie wollte ihm alles geben und alles nehmen. Aber er reagierte überhaupt nicht. Ebensogut hätte sie sich mit einer Maschine unterhalten können.
»Du kannst dich vom Empire State Building stürzen, du sturer Kerl«, entfuhr es ihr, und erst als er leise auflachte, wurde ihr klar, laut gedacht zu haben.
»Damit würde ich dir nicht einmal einen Gefallen tun«, erwiderte er. »Also, worum geht es?«
»Du wirst helfen?«
»Ich will erst einmal wissen, was geschehen ist.«
Sie begann zu erzählen. Während sie sprach, wanderte Julian langsam im Zimmer hin und her, und plötzlich stellte er ein Glas vor ihr ab, in dem sich ihr Lieblingsgetränk befand. »Deine Zunge wird trocken vom vielen Reden«, sagte er leise. »Trink etwas.«
Sie schluckte.
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich helfen kann«, sagte er. »Meine Macht liegt in meinen Träumen.«
»Und du hast dir vorgenommen, nicht wieder zu träumen«, murmelte Angelique. »Aber - du hast es doch schon einmal wieder getan. Oder wie sonst hast du deine Aufgabe erfüllen können, Merlins Fehler zu korrigieren?«
»Da ging es um das Wohl von vielen«, sagte er. »Hier geht es aber nur um das Wohl eines einzelnen Menschen. Und vielleicht ist es längst zu spät. Ich glaube, diese blonde Frau ist längst tot.«
»Wie kannst du sicher sein?«
»Ich bin nicht sicher«, erwiderte er. »Aber ich nehme es an. Alles spricht dafür. Warum hast du dich nicht an deinen Bruder gewandt? Er besitzt mit seinem Amulett viel bessere Möglichkeiten als ich.«
»Er will nicht«, sagte Angelique niedergeschlagen.
»Er ist ein schlauer Fuchs, dieser Schatten in der Nacht«, schmunzelte Julian. »Er schlägt gleich zwei Fliegen mit einer Klappe - zum einen zieht er sich selbst aus der Affäre, und zum anderen schickt er dich zu mir, damit wir wieder Zusammenkommen. Ich glaube, er mag mich nach unserem letzten Gespräch ein bißchen zu sehr.«
»Er hat mich nicht geschickt!« protestierte Angelique. »Glaubst du, ich wäre dann wirklich gekommen?«
Julian antwortete nicht darauf. Er trat ans Fenster und sah nach draußen.
»Ihr stellt euch das alles so einfach vor. Ich gehe mal davon aus, daß es keine sichtbaren Spuren gibt. Wie soll ich die Entführer aufspüren? Ich bin kein Hellseher. Solange ich nicht weiß, wer sie sind und wo ich sie finden kann, kann ich sie auch nicht in eine Traumwelt ziehen und darin so lange alles nach meinem Willen verändern, bis ich sie ausgetrickst habe.«
»Aber du hast Beziehungen«, sagte Angelique. »Du warst einmal Fürst der Finsternis. Du kannst leicht herausfinden, wer hier sein schwarzmagisches Unwesen treibt.«
Er nickte. »Das wäre eine Möglichkeit. Aber ich bezweifle, daß man mir so einfach Auskunft erteilen wird. Sie mögen mich nicht, die Dämonen. Sie haben mich nie gemocht und sich nur deshalb vor mir geduckt, weil meine Macht stärker war als ihre.«
»Ist sie das nicht mehr?«
»Es ist eine andere Situation als damals«, sagte er schulterzuckend. Dann wandte er sich vom Fenster ab und ging zu Angelique. Er beugte sich zu ihr herunter und stützte sich auf den Lehnen ihres Sessels ab; ihre Gesichter befanden sich dicht voreinander. »Ich werde es versuchen«, versprach er.
In Angelique erwachte der brennende Wunsch, ihn zu küssen, jetzt, da sie sich körperlich so nahe waren. Aber dann tat sie es doch nicht. Nein, sie wollte sich ihm nicht einfach so unterwerfen. Sie wollte nicht einfach zu ihm zurückkriechen. Er mußte zu ihr kommen. Er hatte sie vernachlässigt, nicht umgekehrt.
Julian richtete sich wieder auf.
»Du hörst von mir«, sagte er. »So schnell wie möglich.«
Fast fluchtartig verließ sie das Hotelzimmer. Im Lift, wo niemand sie sah, schlug sie die Hände vors Gesicht und weinte. Wieder eine verpaßte Chance! Warum, um Himmels Willen, tat er nicht den einzig richtigen Schritt auf sie zu? Warum quälte er sie so?
Vielleicht, dachte sie bitter, ist er immer noch der kleine Junge, der einem Insekt zu Forschungszwecken Flügel und Beine ausreißt und sich gar keine Gedanken über dessen Schmerzempfinden macht.
Aber immerhin hatte er ihr versprochen, zu helfen. Hoffentlich war es nicht wirklich schon zu spät…
***
Unwillkürlich blieb Zamorra stehen. Er faßte Uschi Peters am
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