0479 - Der Blutjäger
kann ich jederzeit, ohne mich besonders darauf zu konzentrieren, die Aura eines Menschen feststellen. Das ist so etwas wie eine Persönlichkeitsausstrahlung. Du besitzt sie, so wie du einen Schatten wirfst. Sie ist nicht so individuell wie ein Gedankenmuster, aber ich kann auf diese Weise feststellen, ob jemand anwesend ist oder nicht.«
»Und?« fragte sie gespannt.
»Deine Aura kann ich nur spüren, wenn ich dich unmittelbar vor mir sehe. Dann fühle ich deine Aura. Aber sobald du nicht mehr in meinem Blickfeld bist, ist sie weg.«
»Das ist verrückt« entfuhr es ihr. »Jetzt willst du mich auf den Arm nehmen.«
»Nein«, sagte Gryf ernst. »Es ist so, wie ich es sage, und ich wünsche mir eine Erklärung dafür.«
»Die werde ich dir kaum liefern können. Ich wußte ja bisher nicht einmal, daß ich eine - äh, Aura habe! Ich kann sie mir nicht vorstellen.« Sie füllte das kleine Likörglas wieder mit »Dracula« und trank. »Barbarin!« platzte Gryf heraus.
»Wieso?«
Er erklärte es ihr. Rhiannon sah in verwundert an und schüttelte den Kopf. »Ich bin etwas überarbeitet und ein wenig durcheinander« sagte sie. »und normalerweise trinke ich auch keinen Whisky. Eigentlich ist der nur für die Gäste.«
»Aber heute trinkst du mit mir - und du versaust dir den Geschmack mit diesem teuflischen Kräuterzeugs.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Und wenn schon. Vielleicht will ich heute einfach nicht mehr genießen, sondern nur noch sämtliche Reize überfluten. Ich frage mich überhaupt, warum du noch hier bist. Warum habe ich dich nicht bereits zur Tür gebracht?«
Gryf zuckte mit den Schultern. »Wenn du es selbst nicht weißt, wer dann?«
»Ich muß verrückt sein«, sagte sie. »Ich lasse mich mit einem Verrückten ein, der mein gesamtes Weltbild über den Haufen wirft. Weshalb?«
Das Telefon summte wieder. Rhiannon wollte hinübergehen und abheben, aber Gryf hielt sie zurück. »Warte«, sagte er. »Ich glaube, das ist deine Chefin, Francine. Und wenn du dich jetzt meldest, glaubt sie wieder an den Weihnachtsmann, Nikolaus und Osterhasen gleichzeitig, weil wir weder per Flugzeug noch per Auto schon hier sein können.«
Der Anrufbeantworter sprach an. In der Tat erkannte Rhiannon Francines Stimme. Die Agenturchefin warnte sie und wies sie auf den Bilderdiebstahl hin. Die Polizei sei zwar benachrichtigt, aber es könne nicht schaden, besondere Vorsicht walten zu lassen.
»Das ist ja mal seltsam«, murmelte Gryf. »Wer sollte denn ein Interesse an deinen Bildern haben? Die werden doch schließlich in allen möglichen einschlägigen Magazinen veröffentlicht, oder wie sehe ich das?«
»Ich verstehe es auch nicht«, erwiderte sie. »Ich verstehe auch nicht, warum ich mich hier und jetzt überhaupt mit dir unterhalte. Trinkst du weiter Whisky, oder möchtest du auf etwas Harmloseres umsteigen?«
»Wenn du etwas Harmloseres hast?«
Sie bot ihm den Wein an. »Die Flasche ist zwar schon angebrochen, aber ich kann eine frische aus dem Keller holen und…«
Gryf schüttelte den Kopf. »Schon gut, brauchen wir diese erst einmal auf. Ich möchte dich näher kennenlernen, Rhiannon, und ich möchte auch, daß du mich näher kennenlernst.«
»Warum?«
Er schloß die Augen. Ja, warum ? dachte er und wagte nicht, die Antwort laut auszusprechen. Weil ich mich in dich verliebt habe.
***
Die Maschine mit Zamorra und Nicole an Bord startete vom Heathrow-Airport und steuerte Edinburgh an. Ein Telefonat hatte es abgeklärt - Sir Bryont Saris ap Llewellyn war tatsächlich daheim auf Llewellyn-Castle und freute sich auf den angekündigten Besuch. »William wird euch mit dem Wagen erwarten. Wieviel Gepäck habt ihr diesmal?« hatte der Lord gefragt.
»Nichts. Das ist längst in Frankreich. Aber Nicole hat in London ein wenig eingekauft. Zwei Zahnbürsten und ein Stück Seife.«
»Einen Rock kann sie von mir haben«, versprach der schottische Adlige. »Hauptsache, ihr laßt euch endlich mal wieder sehen.«
Und nun waren sie unterwegs, flogen in die Nacht hinein.
Zamorra wurde einen bestimmten Gedanken nicht mehr los.
Warum um alles in der Welt hatte Sid Amos ihn ausgerechnet auf Gryf hingewiesen? Schließlich war es doch durchaus normal, daß der Druide sich im Bereich der britischen Inseln aufhielt. Ebensogut hätte Amos ihn an Merlin erinnern können, oder an Babs, oder an Teri Rheken, oder eben an den schottischen Lord.
Aber ausgerechnet Gryf?
Zamorra verstand die Bedeutung nicht. Aber er konnte auch nicht
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