0479 - Die Nacht der bösen Angela
gesehen, als er in den Wald ging, weil er dort etwas vermessen wollte. Urplötzlich war sie erschienen, fauchend wie eine Furie, nach brackigem Wasser und Sumpf stinkend.
Gérard Cingar war geflohen, als wäre der Teufel persönlich hinter ihm her. Er hatte sich mit seiner Familie eingeschlossen und die Nacht über kein Auge zugetan.
Erst: am nächsten Morgen waren die Cingars wieder auf die Straße gegangen und hatten erfahren, daß die Frau auch von anderen Menschen entdeckt worden war.
Man sprach zum erstenmal von der bösen Angela…
Von nun an war sie in jeder Nacht erschienen, hatte sich gezeigt, aber nie getötet. Den Menschen war es immer wieder gelungen, durch schnelle Reaktionen zu entkommen.
Ein Zeuge hatte sie sogar sprechen hören. Und dieser Satz der bösen Angela geisterte durch den Ort.
»Ich warte auf ihn!«
Über das letzte Wort rätselte man. Wer war damit gemeint? Wer war er?
Mißtrauen keimte auf. Jeden männlichen Dorfbewohner konnte Angela gemeint haben. Auch diejenigen, denen sie nicht über den Weg gelaufen war, fürchteten sich.
Jeder forschte in seiner Vergangenheit nach, so gut es eben möglich war. Man suchte nach dunklen Flecken, nach irgendwelchen Schuldgefühlen, aber man sprach höchstens im Kreise der Familie darüber. Bekannte wurden nicht eingeweiht.
Die Tage im Februar waren noch immer kurz. Manchmal wurde es nicht richtig hell. Von den Berghängen im Westen krochen lawinenartige Nebelfelder hinab ins Tal und überschwemmten mit ihrem Dunst oft genug die kleinen Elsaß-Dörfer wie gewaltige, hellgraue Meere.
Das war dann die Zeit der bösen Angela…
Auch bei den Cingars war dies der Fall. Lisette und Gérard saßen in der Wohnstube zusammen, blickten sich über den Tisch hinweg an und schwiegen. Sie waren beide um die Vierzig. Lisette, eine etwas rundliche Person mit Pausbacken, hatte die Hände gefaltet, als wollte sie beten. Auf ihrer Stirn stand eine Falte. Immer häufiger schielte sie auf die Uhr.
»Was hast du?« fragte ihr Mann.
»Das weißt du genau. Es ist wegen Thomas.«
»Der wird schon kommen.«
»Sonst ist er immer um diese Zeit zurück.«
»Nun ja, wir haben Winter. Vielleicht sind die Straßen vereist. Das kennst du ja. Er kommt aus Mülhausen, das ist immerhin ziemlich weit von hier entfernt.«
Thomas war Soldat. Seit einem halben Jahr leistete er den Grundwehrdienst ab. Zweimal im Monat kam er nach Hause, um seine Eltern zu besuchen. Hinzu kam, daß seine Mutter ihm die Wäsche wusch und auch sonst noch einiges in Ordnung brachte.
Lisette Cingar zündete sich eine Zigarette an. Keiner der beiden Ehepartner sprach es aus, obwohl sie an das gleiche dachten. Die böse Angela war immer gegenwärtig.
»Dann warte ich noch mit dem Abendbrot.«
Gérard nickte. »Ist okay.«
»Ob sie wohl wieder durch die Straßen streicht?« fragte Lisette plötzlich.
»Was geht es dich an?«
»Ich meinte ja nur.« Die Frau erhob sich und drückte den Glimmstengel aus. »Es ist doch eigentlich Blödsinn und kaum zu begreifen, daß sich erwachsene Menschen von einer Spukgestalt terrorisieren lassen. Ich kann das einfach nicht fassen, tut mir leid.«
»Was willst du denn dagegen tun?«
Lisette blies die Wangen auf. »Ich werde dafür sorgen, daß sich einige mutige Personen zusammentun, um es dieser komischen Gestalt zu zeigen, falls es sie überhaupt gibt. Davon bin ich nämlich noch immer nicht überzeugt. Wir sollten uns an unseren Ahnen ein Beispiel nehmen. Die haben nicht gezögert. Bei denen ging es zur Sache. Sogar einen Vampir haben sie besiegt.«
Lisette erwartete eine Antwort von ihrem Mann. Der aber schwieg und starrte brütend auf seine Knie. »Weshalb sagst du nichts zu meinem Vorschlag? Gefällt er dir nicht? Bist du zu feige, einige Leute zusammenzutrommeln und es dem Wesen zu zeigen, falls es diese Gestalt überhaupt gibt, das einmal vorausgesetzt.«
»Ich denke in eine andere Richtung.«
»Und in welche?« Lisette holte die nächste Zigarette aus der Schachtel.
»Ganz einfach. Sollte diese Person tatsächlich existieren, muß ihr Auftauchen einen Grund gehabt haben. Nichts geschieht ohne Motiv. Es steckt etwas dahinter.«
»Und was, bitte sehr?«
»Das weiß ich eben nicht. Vielleicht kommt noch mehr auf uns zu als nur diese Angela. Möglicherweise ist sie erst der Anfang, so etwas wie ein Vorbote.«
Lisette lachte kratzig und hustete danach. »Du redest, als wüßtest du mehr.«
»Das weiß ich nicht. Ich bringe eben meine Erfahrung mit
Weitere Kostenlose Bücher