0479 - Die Nacht der bösen Angela
öffnete das Fenster spaltbreit.
Die Temperaturen lagen um den Gefrierpunkt. Kühle Luft quirlte den Rauch durcheinander und zog ihn fahnengleich nach draußen, wo er über dem Dach zerflatterte.
Thomas wußte genau, was folgen würde. Die lange Gerade mit der Steigung, dahinter begannen die Wälder und auch der Sumpf, der bisher zum Glück noch nicht trockengelegt worden war. Als Kinder hatten er und seine Freunde oft genug in der Nähe des Sumpfes gespielt, was die Eltern aber nicht wissen durften, denn es waren schon einige Menschen im tückischen Moor für immer verschwunden.
Im Westen lagen die Vogesen. An klaren Tagen wirkten die Berge zum Anfassen nah. Jetzt, im Winter und bei Dunkelheit, waren die Buckel nicht einmal zu ahnen.
Thomas Cingar schleuderte die Kippe aus dem Fenster. Das Glutstück schlug einen Bogen durch die Finsternis, bevor sie im Straßengraben verlosch. Er war froh, es bald geschafft zu haben. Knapp zwei Kilometer lagen vor ihm.
Zu Hause würde er sich erst einmal in die Badewanne legen, danach flüssiges Obst zu sich nehmen und anschließend schlafen. Einfach wegratzen, wie man das beim Militär nannte, und vor dem Mittag des nächsten Tages wollte er nicht gestört werden.
Seine Mutter hatte dafür Verständnis, im Gegensatz zu seinem alten Herrn, der oft genug über eine gewisse Disziplinlosigkeit seines Sohnes schimpfte. Jemand kam ihm entgegen. Ein größerer Wagen, dessen Scheinwerfer falsch eingestellt waren, blendeten den Fahrer des R 4, so daß Thomas gezwungen war, für einen Moment die Hand vor seine Augen zu halten.
Dann war das Fahrzeug vorbei. Er hatte nicht einmal erkennen können, ob es jemand aus dem Dorf war.
Thomas hob die Schultern und nahm die letzte weit geschwungene Kurve. Hinter ihr begann Tullmer.
Schon im Scheitelpunkt der Kurve erschienen die ersten Häuser und auch die Tankstelle des alten Grisson. Die blauweiße Neonreklame der Benzinfirma warf ihr kaltes Licht unter anderem auf einen zusammengefegten Schneehaufen. Der reflektierte es.
Plötzlich geschah es!
Dem Fahrer kam es vor, als hätte die Gestalt hinter dem Schneehaufen gelauert. Jedenfalls tauchte sie von dort auf, schwang sich in die Höhe, lief auf die Straße zu, erreichte diese auch und geriet in den Schein der Lampen.
Thomas zerquetschte einen Fluch zwischen den Zähnen. War dieses Weibstück denn wahnsinnig, ihm einfach in den Weg zu laufen? Er mußte bremsen, wenn er sie nicht erwischen wollte.
Gleichzeitig beobachtete er sie, wie sie mit den zeitlupenhaften Bewegungen einer Tänzerin vor die eckige Kühlerschnauze des R 4 geriet.
Thomas bremste!
Die Fremde blieb stehen, beugte sich nach vorn und stützte sich auf der Kühlerhaube ab. In dieser Haltung starrte sie durch die Scheibe in das Wageninnere und versuchte, den Blick des jungen Mannes zu finden.
Thomas Cingar saß bewegungslos, als hätte man ihn auf seinem Sitz festgekettet. Er wußte nicht, was er von der dunkelhaarigen Person halten sollte, jedenfalls war sie für ihn eine Fremde, denn aus dem Ort stammte sie nicht. Von ihrer Schönheit war er angetan. Er spürte den Reiz und die Ausstrahlung dieser Person, sah das katzenhaft wirkende Gesicht mit den schräggestellten Augen und das geheimnisvolle Lächeln, das auf den breiten Lippen ihres Mundes lag.
Wer war diese Frau?
Sie gab Thomas Rätsel auf. Allein ihre Kleidung paßte nicht in diese Jahreszeit. Sie trug ein schlichtes, graues Kleid, sehr weit ausgeschnitten und an beiden Schenkeln geschlitzt.
Sekunden rannen dahin. Die Fremde rührte sich ebenso wenig wie der Fahrer. In seinem Kopf allerdings bewegte sich etwas. Die Frau, so unbekannt sie ihm auch vorkam, war trotzdem eine Person, von der geredet worden war. Thomas erinnerte sich an den Telefonanruf seiner Mutter in der Kaserne. Es lag noch nicht lange zurück, aber seine Mutter hatte ihm von der bösen Angela erzählt, einer unheimlichen Frau, die Tullmer unsicher machte. Angela war als Gespenst oder Vampir bezeichnet worden, jedenfalls als ein Spukwesen.
Und diese Person vor dem Auto ähnelte ihr. Sogar das Kleid trug sie, das seine Mutter ihm beschrieben hatte.
Er spürte plötzlich den Druck in der Kehle. Seine Hände begannen zu zittern. Er wußte gleichzeitig, daß er nicht die Nacht über auf dem Fleck stehenbleiben und warten konnte.
Plötzlich grinste sie.
Es war ein widerliches, ein in die Breite gezogenes Grinsen, das einen Teil der Zähne freilegte und besonders die beiden, die wie gelbweiße
Weitere Kostenlose Bücher