048 - Die Bande des Schreckens
könnten es Leute sein, die eine persönliche Bindung zu ihm hatten - seine Verwandten und Freunde. Wir wissen aber, daß er in der ganzen Welt keine Freunde und Verwandten besaß.«
Miss Revelstoke seufzte.
»Dafür sollte er jetzt noch dankbar sein!«
»Vendetta ist hierzulande unbekannt«, fuhr Mr. Henry fort, »und es ist ganz undenkbar, daß Männer ihr Leben aufs Spiel setzen, nur um einen toten Fälscher zu rächen, der sie nicht mehr dafür belohnen kann, nicht mal mit seiner Dankbarkeit.« »Hat Ihnen Mr. Long etwas Bestimmtes erzählt - irgendeine Tat, die seine ›Bande des Schreckens‹ wirklich begangen hat?« fragte Miss Revelstoke.
»Nein«, erwiderte Nora, »er fürchtete nur...« Wieder sprach sie zuviel!
Glücklicherweise kam ihr auch diesmal Mr. Henry zu Hilfe. »Fürchtete für Monkford - das ist ebenfalls ein offenes Geheimnis. Ich nehme aber nicht an, daß Monkford selbst sich fürchtet, er ist, wie ich ihn kenne, nicht der Mann dazu.«
»Monkford erfüllte nur seine Pflicht«, sekundierte Miss Revelstoke. »Es ist Unsinn, zu glauben, daß er bedroht wird! Wirklich, Nora, ich muß Ihren Detektiv kennenlernen. Er scheint ein überlebendes Exemplar jenes Menschentyps zu sein, der ausstarb, als die ausgezeichneten Romane von Gaboriau unmodern wurden!«
»Er ist wirklich nett«, bemerkte Nora, im Bestreben, ihn zu verteidigen, »und keineswegs unglaubwürdig.« Mr. Henry sah sie nachdenklich an und strich bedächtig seinen kleinen, schwarzen Schnurrbart.
»Ich kann dem nur beistimmen«, versicherte er. »Der Wetter ist zwar exzentrisch und benutzt Methoden, die von den üblichen durchaus abweichen, aber er ist kein Sensationsjäger.«
»Wer ist er eigentlich?« erkundigte sich Miss Revelstoke. Staunend vernahm Nora nun von Longs wohlhabender Herkunft. »Eines Tages wird er Baron sein und annähernd zwei Millionen Pfund besitzen. Das ist der Hauptgrund seiner Unbeliebtheit bei Scotland Yard. Man fürchtet dort ständig den Vorwurf der Begünstigung.« Nach dem Essen führte Miss Revelstoke ihren Gast in das kleine Studierzimmer neben dem Salon, und Nora war frei. Mr. Henry folgte ergeben, seine umfangreiche, mit Dokumenten gefüllte Aktentasche in der Hand. Die alte Dame hatte in London einigen Grundbesitz, um den sie sich mit resolutem Geschäftssinn kümmerte. Resigniert murmelte der Anwalt, als er an Nora vorbeiging: »Ich werde einen reizenden Abend verleben!« Sie lächelte ihm teilnahmsvoll zu.
Als sie um elf Uhr an die Tür klopfte, um den beiden gute Nacht zu wünschen, waren sie noch immer bei der Arbeit, und sie vernahm die penetrant eindringliche Stimme ihrer Herrin, die sich über die Fahrlässigkeit ihrer Mieter beklagte.
Lange lag Nora wach, mit den Ereignissen dieses Tages beschäftigt. Ein Taxi fuhr unten vor, und durch das offene Fenster ihres Zimmers hörte sie Mr. Henrys Stimme, als er sich von seiner Klientin verabschiedete. Eine halbe Stunde verging, sie lag noch immer wach. Die Kirchturmuhr schlug eins, als sie in einen unruhigen Schlaf fiel, aus dem ein leises Klopfen an der Tür sie weckte. »Schlafen Sie schon?«
Es war Miss Revelstoke. Nora erhob sich, schlüpfte in einen Morgenmantel und öffnete.
»Es tut mir leid, wenn ich Sie störe. Kann ich hereinkommen?« Sie trug noch immer ihr schwarzseidenes Abendkleid. »Mr. Henry fragte mich, ob er Ihnen den Hof machen darf.« Nora erschrak. »Den Hof machen? Sie meinen...«
»Er will Sie heiraten. Selbstverständlich gab ich ihm zu verstehen, daß mich das nichts angehe, und daß ich Sie in keiner Weise beeinflußen werde. Er wird es voraussichtlich in seinem Beruf weit bringen, ist ziemlich wohlhabend und kein langweiliger Mensch. Ich bin sicher, daß er auch ein erträglicher Ehemann sein wird. Gute Nacht!«
Sie schloß die Tür hinter sich und ließ ein höchst verwirrtes Mädchen zurück. Diese Wendung bedeutete eine unvorhergesehene Verwicklung. Frederick Henry war der letzte Mann der Welt, den Nora zu heiraten wünschte.
Als sie endlich einschlief, träumte sie etwas, das sie sich in wachem Zustand nicht vorzustellen gewagt hätte - Mr. Henry und der Wetter Long waren Nebenbuhler. Dann nahm der Traum eine andere Wendung. Sie sah vier schreckliche, verschwommene Gestalten ohne Gesichter und erkennbare Umrisse, in deren Gewalt sie, an Händen und Füßen gefesselt, fiel, und wußte, daß sie der Bande des Schreckens angehörten. Vergeblich versuchte sie, den Schleier zu zerreißen, der ihre Peiniger
Weitere Kostenlose Bücher