0485 - Whisper - der Staubgeist
schüttelte den Kopf. »Nein, das können und dürfen wir doch nicht zulassen.«
»Man fragt nicht!« flüsterte Janine. Sie hielt ihr Weinglas mit beiden Händen fest. »Er fragt nicht, er ist einfach da. Er kommt, man kann ihn sehen.«
»Hast du ihn denn gesehen, Mädchen?«
»Das habe ich, Monsieur Virni. Mein Urgroßvater hat ihn mir gezeigt. Whisper stand am Himmel!« Das Mädchen begann wieder zu weinen, als es im nachhinein daran dachte.
»Können Sie ihn beschreiben?« fragte der Wirt weiter.
Sie nickte, entschuldigte sich für die Tränen und erzählte mit stockender Stimme. »Er stand am Himmel und sah aus wie eine normale Wolke, verstehen Sie? Grau und gelb, als würden die Vorboten eines schweren Unwetters über der Stadt liegen. Ich dachte ebenfalls an ein Gewitter.« Sie warf den Kopf zurück und lachte schrill. »Ja, ich wollte nicht an so etwas glauben. An Vernichtung, an einen Geist, was weiß ich. Aber mein Urgroßvater sah die Sache anders und richtig. Er war ein Mensch mit Erfahrungen. Er kannte sich aus. Zwar besaß er kein großes Schulwissen, aber das andere Wissen war wertvoller und wichtiger. Nur gelang es ihm nicht, dies einzusetzen, verstehen Sie? Der Geist war schneller.«
»Ja, natürlich.« Virni nickte. »Das ist mir alles klargeworden:« Er knetete seine Hände. »Damit ist leider noch immer nicht klar, was wir tun sollen, wenn er hier erscheint.« Der Wirt schaute mich an, doch ich konnte ihm ebenfalls keine Antwort geben und hob die Schultern.
Abbé Bloch meldete sich. »Ich möchte eigentlich zu unserem Haus gebracht werden, wenn es möglich ist.«
»Natürlich«, sagte ich schnell. »Wir fahren dich hin.«
Virni ging zur Tür. »Ich muß einfach nach draußen schauen«, sagte er. »Sie haben erzählt, daß sich die unheimliche Sand- und Staubwand in unsere Richtung bewegte. Da kann ich sie bestimmt sehen.«
Wir hielten ihn nicht auf. Durch die offene Tür fiel ein breiter Lichtstreifen, als er über die Schwelle trat und einige Schritte vor seinem Haus stehenblieb.
Sehr schnell war er wieder bei uns. Kaum hatte er den Gastraum betreten, verlangsamte er seine Schritte und sah so aus, als würde er jeden Augenblick umkippen.
»Was ist geschehen?« fragten Suko und ich gleichzeitig.
Virni stützte sich auf einem in der Nähe stehenden Tisch ab. Die andere Hand preßte er gegen sein Herz. Augen und Mund standen offen. Er hatte Mühe, überhaupt zu sprechen. »Ihr… ihr habt recht gehabt«, flüsterte er. »Ihr … ihr habt euch nicht geirrt. Geht selbst und …«
Wir fragten nicht weiter, sondern liefen durch die Tür und blieben vor dem Haus stehen. Automatisch schauten Suko und ich gegen den Himmel. Hinter uns kam Janine Remi.
»Ja!« hörten wir ihre heiser klingende Stimme. »Ja, genauso hat es auch bei uns in Alcoste ausgesehen. Whisper ist gekommen…«
***
Der Staubgeist war also da! Und er stand hoch über uns am Himmel wie eine fürchterliche Drohung. Ihn als Wolke zu bezeichnen, wäre falsch gewesen, man mußte ihn schon als graue Fläche ansehen, die einen Teil des Himmels über dem Ort bedeckte und dort lag wie ein in die Breite gezogenes Raubtier.
Die graue Wand verdunkelte nicht die Sonne, weil sie aus einer anderen Richtung wehte, aber wir sahen deutlich den gelben Streifen inmitten der Grundfarbe. Es war das Zentrum. Es erinnerte mich an ein Maul, das jeden Augenblick bereit war, sich zu öffnen und uns zu verschlingen. Noch rührte sich die Wand nicht. Sie lag über uns wie eine Decke, und jeder von uns spürte die Gefahr.
Von dieser Stelle aus konnten wir auch in die Hauptstraße hineinblicken, auf der sich einige Menschen zusammengefunden hatten und ebenfalls in die Höhe schauten.
Ich hörte das Wort Gewitter und war froh, daß die Leute so dachten. Wenn sie den wahren Grund erkannten, wären sie vor Angst sicherlich vergangen.
Janine Remi sprach das aus, was auch wir dachten. »Whisper wird versuchen, auch diese Stadt zu zerstören, glaubt mir.« Sie nickte heftig. »Es bleibt uns nur die Flucht. Sie sollten die Bewohner warnen und ihnen das Schicksal von Alcoste vor Augen halten. Das ist die einzige Chance, die wir noch haben. Massenflucht…«
Ich überlegte. Auch Suko dachte über die Worte des jungen Mädchens nach. Vielleicht hatte Janine sogar recht. Wenn uns tatsächlich nichts anderes mehr einfiel, mußten wir so rasch wie möglich den Ort verlassen, zusammen mit den Bewohnern, obwohl das auch keinen Sinn hatte, wenn ich näher
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