0491 - Der Blutjäger
geschrieben. Sie trug auch schwarze Kleidung. Einen dunklen Rock und dazu einen Pullover in der gleichen Farbe. Selbst Schuhe und Strümpfe waren schwarz.
Eva umarmte ihre Mutter stumm. Frau Leitner brachte ihre schmalen Lippen dicht an Evas Ohr.
»Du warst im Ort, bist aber nicht zur Beerdigung gekommen, Kind. Weshalb nicht? Wir haben auf dich gewartet, besonders dein Vater.«
»Ich weiß, Mutter, aber ich hatte meine Gründe. Ich… ich… habe mir Karin in der Leichenhalle angeschaut. Ganz allein, weißt du.«
»Wir lasen deinen Namen auf der Karte.« Sie holte Luft. »Aber jetzt bist du da. Warst du schon am Grab?«
»Natürlich, Mutter.«
»Und?«
»Der Wind wehte darüber hinweg.«
»Er hat Karins Seele mitgenommen«, flüsterte die Frau und bat uns herein.
Wir betraten eine Wohnküche, wo eine große Eckbank stand. Ich sah den Herd, eine Kommode, den Fernsehapparat darauf, daneben stand das Bild. Es war mit einem Trauerflor dekoriert und zeigte ein lachendes Gesicht. Das Licht einer Kerze warf Reflexe auf das Glas.
»Karin«, sagte Eva nur.
Ich nickte.
Frau Leitner legte eine Decke auf den Tisch. »Kann ich Ihnen etwas anbieten?« fragte sie. »Ich hätte Kaffee da.«
»Gern.«
»Warte, das mache ich«, sagte Eva und benahm sich, als wäre sie überhaupt nicht fortgewesen. Sie holte Tassen aus der Kommode und Unterteller.
Frau Leitner saß mir gegenüber. Es war still geworden. Von draußen hörten wir den Wind. Er orgelte um die Hausecken und spielte klappernd mit den Fensterläden an der Rückseite des Hauses.
»Sie kommen also aus London«, sagte die Frau.
»Ja.«
»Ist die Stadt häßlich?«
»Manchmal, aber sie kann auch sehr schön sein, wie ich finde. Ich lebe schon lange dort.«
Frau Leitner nickte. »Warum?« so flüsterte sie, »ist meine Tochter dorthingegangen? Wir haben uns alle sehr gegrämt, vor allen Dingen mein Mann.«
»Mutter!« sagte Eva in einem etwas strengen Ton. »Hatten wir uns nicht vorgenommen, daß dieses Thema erledigt ist?«
»Entschuldige, es überkam mich halt. Ich habe nur noch dich als Kind.« Sie begann zu weinen.
Eva schenkte den Kaffee ein. Ich lauschte den dabei entstehenden Geräuschen.
»Zucker und Milch?« fragte Eva.
»Nein, ich trinke ihn pur.«
Sie setzte sich an das Kopfende des Tisches, nahm die Tasse mit beiden Händen hoch und schaute zu, wie ihre Mutter mit den Handflächen über die Tischdecke strich.
»Man hat ihn nie gefunden«, sagte sie plötzlich.
»Wen?«
Frau Leitner schaute ihre Tochter an. »Den Mörder von Karin, meine ich. Er ist verschwunden.«
Ich meldete mich mit einer Zwischenfrage. »Wie starb sie denn, Frau Leitner?«
Große Augen schauten mich an. Sie wurden wieder naß. »Man hat sie mit einem Messerschnitt getötet. Am Hals, Herr Sinclair. So heißen Sie doch, nicht?«
»Ja.«
»Am Hals, einfach so.« Frau Leitner senkte den Kopf und preßte die Stirn auf ihre Arme.
Eva warf mir einen knappen, bedeutungsvollen Blick zu. Sie drückte damit aus, daß keiner außer uns beiden die wahre Todesursache kannte.
»Wo fand man sie?«
»Nicht hier. Außerhalb, auf der Höhe. Dort lag sie, als würde sie schlafen.«
»Nahe der alten Höhle?«
»Ja.« Frau Leitner wunderte sich. »Wie kommen Sie darauf?«
»Ihre Tochter hat mir von der Höhle berichtet. Sie scheint sehr bekannt zu sein.«
»Sie ist alt.« Frau Leitner wischte über ihr tränennasses Gesicht.
Ich trank den Kaffee. Er war heiß, stark und fast bitter. Auch Eva hatte ihre Tasse abgesetzt. In einem Nebenzimmer tickte eine Uhr. Wenn ich den Kopf drehte, konnte ich durch ein kleines Fenster schauen und einen Teil des Gartens sehen. Dort wirbelte der Wind Kirschblüten von den Zweigen.
Sie fielen zu Boden wie weißrote Schneeflocken.
»Wo steckt eigentlich Vater?« fragte Eva plötzlich. »Ist er nicht im Haus?«
»Doch, schon.«
»Dann kommt er nicht?«
»Er wird euch nicht gehört haben.«
»Dann schläft er?« Eva hob beide Arme. »Meine Güte Mutter, laß dir doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen.«
»Er ist im Keller.«
»Was macht er denn da?«
»Wie soll ich dir das erklären, Kind?« Die Frau holte tief Luft. »Er… er paßt auf Großvater auf.«
Eva schüttelte den Kopf, schaute mich an, ich konnte ihr auch keine Antwort geben und hob die Schultern. »Wieso paßt er auf Großvater auf? Ist der krank?«
»Nein, es ist etwas anderes.«
»Was denn?«
»Bitte, frag nicht, Kind! Ich kann es dir nicht erklären.«
Eva beugte sich
Weitere Kostenlose Bücher