05 - Denn bitter ist der Tod
nicht auf mich hören. Du mußt immer deine gottverdammte Pflicht und Schuldigkeit tun. Jetzt siehst du, was uns das gebracht hat.«
»Was denn?«
»Na, das hier. Daß wir abhauen müssen und nicht wissen, wo wir hin sollen. Aber wenn du vorher ein bißchen nachgedacht hättest - wenn du nur ausnahmsweise mal nachgedacht hättest... Und jetzt wartet er, Rosalyn. Er wartet nur auf den richtigen Moment. Er weiß, wo wir zu finden sind. Du hast ihn ja praktisch dazu aufgefordert, uns beide abzuknallen. Aber das wird nicht passieren. Ich hocke mich bestimmt nicht hier hin und warte darauf, daß er kommt. Und du tust das auch nicht.« Sie riß zwei Pullover aus einer Schublade. »Wir haben fast die gleiche Größe. Du brauchst nicht in dein Zimmer zu gehen, um deine Sachen zu holen.«
Rosalyn ging zum Fenster. Ein einsamer Mensch in schwarzer Robe eilte über den Rasen. Die Menge der Neugierigen hatte sich längst zerstreut, die Polizei war wieder abgefahren. Es war schwer zu glauben, daß an diesem Morgen wieder eine Studentin getötet worden war, und es war ihr unmöglich zu glauben, daß dieser zweite Mord mit dem Gespräch zu tun haben sollte, das sie am vergangenen Abend mit Gareth Randolph geführt hatte.
Sie war zusammen mit Melinda - die den ganzen Weg wütend protestiert und widersprochen hatte - zur VGS gegangen und hatte ihn dort in seinem kleinen Büro gefunden. Da niemand da gewesen war, der hätte dolmetschen können, hatten sie über den Bildschirm seines Computers miteinander kommuniziert. Er hatte schlecht ausgesehen, blaß und eingefallen, wie von einer Krankheit aufgezehrt. Er hatte zu Tode erschöpft und tief unglücklich ausgesehen. Aber er hatte nicht wie ein Mörder ausgesehen.
Irgendwie, dachte sie, hätte sie es gespürt, wenn Gareth eine Gefahr für sie gewesen wäre. Ganz sicher wäre eine Spannung von ihm ausgegangen, die sie wahrgenommen hätte. Er hätte Anzeichen von Panik gezeigt angesichts dessen, was sie ihm erzählte. Aber sie hatte nur Zorn und Schmerz entdeckt. Und dem hatte sie entnommen, daß er Elena Weaver geliebt hatte.
Rosalyn war in ihr Zimmer zurückgekehrt, Melinda in schwärzester Stimmung. Sie hatte nicht gewollt, daß Rosalyn überhaupt mit jemandem über Robinson Crusoe's Island sprach, und nicht einmal Rosalyns Kompromiß, statt mit der Polizei mit Gareth Randolph zu sprechen, hatte ihren Unwillen dämpfen können.
Sie hatte darum Müdigkeit vorgeschützt, einen dringenden Aufsatz, das Bedürfnis, in Ruhe nachzudenken. Und als Melinda gegangen war - nicht ohne noch einen vorwurfsvollen Blick zurückzuwerfen, ehe sie die Tür schloß -, war sie erleichtert gewesen.
»Warum denkst du nie an uns?« fragte Melinda in ihre Gedanken hinein. »Kannst du mir das mal sagen?«
»Diese Geschichte betrifft andere doch viel stärker als uns.«
Melinda hielt beim Packen inne. »Wie kannst du das sagen? Ich habe dich gebeten, nichts zu sagen. Du hast behauptet, du müßtest es sagen. Und jetzt ist noch ein Mädchen tot. Sie war auch im Hare and Hounds. Sie hat in deinem Trakt gewohnt. Er ist ihr gefolgt, Rosalyn. Er hat gedacht, sie wäre du.«
»Das ist doch absurd. Er hat überhaupt keinen Grund, mir etwas Böses zu wollen.«
»Du mußt ihm etwas gesagt haben, von dessen Bedeutung du selbst keine Ahnung hattest. Aber er wußte sofort, was es hieß. Er wollte dich umbringen, und da ich auch dabei war, will er mich auch umbringen. Aber die Chance kriegt er nicht. Wenn du nicht an uns denken willst, kann ich's nicht ändern. Aber ich tu's. Wir verschwinden hier, bis sie ihn geschnappt haben.« Sie zog den Reißverschluß des Rucksacks zu und warf das Gepäckstück auf das Bett. Dann holte sie Mantel, Schal und Handschuhe aus dem Schrank. »Erst mal fahren wir mit der Bahn nach London. Wir können in der Nähe von Earl's Court bleiben, bis ich das Geld habe, um...«
»Nein.«
»Rosalyn...«
»Gareth Randolph ist kein Killer. Er hat Elena geliebt. Das hat man doch gesehen. Niemals hätte er ihr etwas angetan.«
»So ein Quatsch! Andauernd bringen sich Leute deswegen um. Und dann morden sie gleich noch mal, um alles zu vertuschen. Und genau das tut er auch, ganz gleich, was du angeblich auf der Insel gesehen hast.«
Melinda sah sich im Zimmer um, als wollte sie sich vergewissern, daß sie nichts vergessen hatte. »Komm«, sagte sie. »Gehen wir endlich.«
Rosalyn rührte sich nicht. »Ich hab das gestern abend für dich getan, Melinda. Ich bin zur VGS gegangen und nicht
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