05 - Denn bitter ist der Tod
den Fischen«, als sei das eine Entschuldigung für ihre Fahrlässigkeit. Sie sprang in ihren Mini und raste zur Uxbridge Road. Sie brauste durch Seitenstraßen und Hintergassen. Sie hielt Leute an, um zu fragen. Sie rannte in Läden und Geschäfte. Und sie fand ihre Mutter schließlich im Hof der Grundschule, die einst Barbara und ihr lang verstorbener kleiner Bruder besucht hatten.
Der Rektor hatte schon die Polizei alarmiert. Zwei Beamte - ein Mann und eine Frau - sprachen auf Doris Havers ein, als Barbara kam. An den Fenstern der Schule drückten sich neugierige Kinder die Nasen platt. Kein Wunder, dachte sie, bei dem Anblick, den ihre Mutter bot. Sie hatte nichts weiter an als eine sommerliche Kittelschürze und Hausschuhe. Die Brille hatte sie aus irgendeinem Grund auf den Kopf geschoben. Ihr Haar war ungekämmt, ihr Körper roch ungewaschen. Sie babbelte und zappelte wie eine Verrückte. Als die Beamtin sie beim Arm nehmen wollte, wich sie geschickt aus und rannte laut nach ihren Kindern rufend auf das Schulhaus zu.
Das war vor gerade zwei Tagen gewesen, ein deutliches Zeichen, daß Mrs. Gustafson mit ihrer Aufgabe überfordert war.
In den acht Monaten seit dem Tod ihres Vaters hatte Barbara alles Mögliche versucht, um das Problem der Versorgung ihrer Mutter zu lösen. Zuerst hatte sie sie in ein Seniorenzentrum gebracht. Aber dort konnte man die »Klienten« höchstens bis neunzehn Uhr behalten, Barbaras Arbeitszeiten bei der Polizei jedoch waren unregelmäßig. Hätte Lynley, Barbaras Vorgesetzter, gewußt, daß sie spätestens um sieben ihre Mutter abholen mußte, so hätte er darauf bestanden, daß sie sich die Zeit dazu nahm. Aber für ihn wäre das eine zusätzliche Arbeitsbelastung gewesen, und Barbara bedeuteten ihre Arbeit und die Partnerschaft mit Thomas Lynley zuviel; niemals hätte sie sie wegen persönlicher Probleme aufs Spiel gesetzt.
Danach hatte sie es mit diversen Tageshilfen und Gesellschafterinnen versucht, vier hintereinander, die insgesamt ganze zwölf Wochen blieben. Sie hatte beim Sozialamt eine Haushaltshilfe beantragt. Und am Ende hatte sie auf ihre Nachbarin, Mrs. Gustafson, zurückgegriffen. Trotz der Warnungen ihrer eigenen Tochter war Mrs. Gustafson als Retterin in der Not eingesprungen. Aber eine Dauerlösung war das nicht. Barbara wußte, daß nur noch ein Heim in Frage kam. Aber die Vorstellung, ihre Mutter in ein städtisches Heim zu stecken, in dem so ziemlich alles im argen lag, war ihr unerträglich. Ein privates Heim andererseits konnte sie nicht bezahlen.
Sie kramte die Karte aus ihrer Jackentasche, die sie am Morgen eingesteckt hatte. Hawthorn Lodge, stand darauf. Uneeda Drive, Greenford. Ein kurzer Anruf bei Florence Magentry, und alle ihre Probleme wären gelöst.
»Mrs. Flo«, hatte Mrs. Magentry gesagt, als sie am Morgen um halb zehn auf Barbaras Klopfen geöffnet hatte. »So nennen mich meine Damen. Mrs. Flo.«
Sie wohnte in einem einstöckigen Reihenhaus aus der ersten Bauphase nach 1945, das sie romantisch »Hawthorne Lodge« getauft hatte. Backsteinfassade, rostrot gestrichene Tür und Fensterrahmen, ein Erkerfenster mit Blick in einen Vorgarten voller Gartenzwerge. Durch die Haustür gelangte man in einen kleinen Flur mit Treppe nach oben. Rechts befand sich ein Wohnzimmer, in das Mrs. Flo Barbara führte, während sie ohne Punkt und Komma von den »Annehmlichkeiten« erzählte, die das Haus den Damen bot, die hier zu Besuch weilten.
»Ich sage immer Besuch«, erklärte Mrs. Flo und tätschelte Barbaras Arm mit weicher, weißer und überraschend warmer Hand. »Das klingt nicht so endgültig, nicht wahr? Kommen Sie, ich zeige Ihnen alles.«
Barbara wußte genau, daß sie das Positive zu sehen suchte. Im Geist ging sie die einzelnen Punkte durch. Bequeme Möbel im Wohnzimmer - abgenützt, aber solide -, dazu ein Fernsehgerät, eine Stereoanlage, zwei Borde mit Büchern und eine große Sammlung Zeitschriften; frischer Anstrich und neue Tapeten, freundliche Bilder an den Wänden; eine saubere Küche mit einer Eßnische, deren Fenster nach hinten zum Garten hinausgingen; oben vier Zimmer, eines für Mrs. Flo, die anderen drei für die »Damen«. Zwei Toiletten, eine oben, eine unten, beide blitzsauber. Und Mrs. Flo selbst mit ihrem modernen Kurzhaarschnitt und dem adretten Hemdblusenkleid mit Blumenbrosche am Kragen. Sie sah aus wie eine elegante ältere Dame, und sie roch nach Zitrone.
»Sie haben genau im richtigen Moment angerufen«, hatte sie gesagt.
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