05 - Denn bitter ist der Tod
»Wir haben letzte Woche unsere liebe Mrs. Tilbird verloren. Dreiundneunzig war sie. Aber hellwach, sage ich Ihnen. Sie ist einfach eingeschlafen, wirklich ein Segen. So friedlich. Im nächsten Monat wäre sie zehn Jahre bei mir gewesen.« Mrs. Flos Augen wurden feucht. »Nun ja, niemand lebt ewig, nicht wahr? Möchten Sie die Damen kennenlernen?«
Die Bewohnerinnen von Hawthorne Lodge saßen warm eingepackt, im Garten in der Morgensonne. Sie waren nur zu zweit, die eine eine vierundachtzigjährige Blinde, die Barbaras Begrüßung lächelnd erwiderte und dann augenblicklich einnickte, und die andere eine verängstigt wirkende Frau Mitte Fünfzig, die wie ein Kind Mrs. Flos Hand umklammerte und sich auf ihrem Stuhl ganz klein machte. Barbara kannte die Symptome.
»Können Sie denn mit zweien fertigwerden?« fragte sie unumwunden.
Mrs. Flo strich der Frau, die immer noch ihre Hand umklammert hielt, über das Haar. »Ich habe keine Schwierigkeiten mit ihnen. Gott lädt jedem eine Last auf, ist es nicht so? Aber keinem teilt er eine Last zu, die schwerer ist, als er tragen kann.«
An diese Worte dachte Barbara jetzt. War es vielleicht so, daß sie versuchte, eine Last abzuwälzen, die sie selbst aus Faulheit oder Egoismus nicht tragen wollte?
Sie wich der Frage aus, indem sie sich alles vor Augen hielt, was für einen Umzug ihrer Mutter nach Hawthorne Lodge sprach: die Nähe zum Bahnhof Greenford und die Tatsache, daß sie nur einmal würde umsteigen müssen - in der Tottenham Court Road -, wenn sie ihre Mutter bei Mrs. Flo unterbrachte und selbst das kleine Häuschen nahm, das sie mit viel Glück in Chalk Farm aufgetrieben hatte; der Obst- und Gemüsestand direkt am Bahnhof, an dem sie ihrer Mutter vor einem Besuch frisches Obst besorgen konnte; der kleine Park nur eine Straße weiter mit einer Weißdornallee, die zu einem Spielplatz mit Schaukeln, Wippe, Karussell und Bänken führte, wo sie sich niedersetzen und den Kindern zusehen konnten; die Geschäfte in unmittelbarer Nähe - eine Reinigung, ein Supermarkt, ein Spirituosenladen, eine Bäckerei und sogar ein chinesisches Restaurant, das über die Straße verkaufte.
Aber noch während sie sich all diese Punkte aufzählte, die für einen Anruf bei Mrs. Flo sprachen, war Barbara sich auch der wenigen Negativpunkte bewußt, die ihr in dem Haus in Greenford aufgefallen waren. Gegen den Verkehrslärm der A 40, sagte sie sich, könnte man eben nichts machen, und es sei nun mal nicht zu ändern, daß die kleine Gemeinde Greenford genau zwischen Eisenbahn und Autoschnellstraße eingekeilt war. Ihr fielen die zwei zerbrochenen Gartenzwerge im Vorgarten ein, dem einen hatte die Nase gefehlt, dem anderen der Arm. Absurd, sich damit zu befassen, aber die beschädigten Figuren hatten irgendwie so erbärmlich gewirkt. Und die glänzenden Stellen an der Sofalehne, wo fettige alte Köpfe zu lange in die Polster | gedrückt gewesen waren, hatten etwas Schauriges gehabt. Und die Krümel am Mundwinkel der Blinden...
Kleinigkeiten, wies sie sich selbst zurecht, kleine Widerhaken, die sich in ihr Schuldgefühl einhängten. Man konnte nicht überall Perfektion erwarten. Außerdem waren alle diese nicht ganz so erfreulichen Dinge harmlos im Vergleich zu ihren Lebensverhältnissen in Acton und dem Zustand des Hauses, in dem sie jetzt lebten.
Aber in Wirklichkeit ging es eben um mehr als eine Entscheidung zwischen Acton und Greenford, um mehr als die Frage, ob sie ihre Mutter zu Hause behalten oder in einem Heim unterbringen sollte. Es ging um Barbaras eigene Wünsche: ein Leben fern von Acton, fern von ihrer Mutter und den Lasten, die zu tragen sie sich im Gegensatz zu Mrs. Flo nicht gerüstet fühlte.
Der Erlös aus dem Verkauf des Hauses in Acton würde reichen, den Aufenthalt ihrer Mutter bei Mrs. Flo zu bezahlen. Und sie könnte das Häuschen in Chalk Farm nehmen. Es machte nichts, daß es gerade einmal dreißig Quadratmeter groß war, nicht viel mehr als ein umfunktionierter Schuppen mit einem Backsteinkamin und einem Dach, dem zahlreiche Schindeln fehlten. Es hatte Möglichkeiten. Und mehr verlangte Barbara längst nicht mehr vom Leben, nur die Verheißung, den Hauch einer Möglichkeit.
Hinter ihr öffnete sich die Tür, und sie wendete den Kopf.
Lynley kam herein. Er sah ausgeruht aus trotz der langen Nacht, die der Killer von Maida Vale sie gekostet hatte.
»Was gefunden?« fragte er.
»Wenn ich das nächste Mal einem Kollegen einen Gefallen zu tun verspreche, dann
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