05 - Denn bitter ist der Tod
ehe sie sich abwandte und in den hinteren Teil des Hauses ging.
An der Tür zu Anthonys Arbeitszimmer blieb sie stehen. Er kauerte vor einer offenen Schublade seines Aktenschranks. Der Inhalt zweier Hefter lag auf dem Boden verstreut, vielleicht zwanzig Bleistiftskizzen. Neben ihnen lag eine zusammengerollte Leinwand.
Glyn sah, wie Anthony mit einer Hand langsam über die Zeichnungen strich. Es wirkte wie eine Liebkosung. Dann begann er, die Skizzen durchzusehen. Mit ungeschickten Fingern. Zweimal schluchzte er auf. Als er innehielt, um seine Brille abzunehmen und die Gläser an seinem Hemd zu putzen, merkte sie, daß er weinte. Sie trat in das Zimmer, um die Zeichnungen auf dem Boden besser sehen zu können, und erkannte, daß sie alle Elena zeigten.
»Dad hat jetzt angefangen zu zeichnen«, hatte Elena ihr erzählt, und sie hatte bei der Vorstellung gelacht. Sie hatten häufig gelacht über Anthonys verzweifelte Versuche der Selbstfindung im Angesicht des heranrückenden Alters. Alles mögliche hatte er probiert. Erst war es Marathonlaufen gewesen, dann Schwimmen, danach war er geradelt wie ein Wahnsinniger, und schließlich hatte er segeln gelernt. Am meisten hatten sie sich amüsiert, als er zu zeichnen begonnen hatte. »Dad sieht sich als van Gogh«, pflegte Elena zu sagen, und dann machte sie ihren Vater nach, wie er breitbeinig dastand, den Skizzenblock in der Hand, den Blick mit zusammengekniffenen Augen in die Ferne gerichtet. Sie malte sich einen Schnurrbart auf die Oberlippe und verzog das Gesicht zu einer Grimasse angestrengter Konzentration. »Bleib so, Glynnie«, befahl sie ihrer Mutter. »Bleib so. In dieser Pose.« Und dann lachten sie alle beide.
Aber jetzt konnte Glyn sehen, daß die Zeichnungen gut waren und es ihm gelungen war, etwas vom Wesen ihrer Tochter einzufangen: diese typische Haltung ihres Kopfes, die leichte Schrägstellung ihrer Augen, das Lachen, die Linie der Wange, der Nase, des Mundes. Es waren nur Studien, flüchtige Eindrücke, aber sie waren schön. Und sie waren wahr.
Als sie noch einen Schritt näher kam, sah Anthony auf. Er sammelte die Zeichnungen ein und schob sie wieder in ihre Hefter. Zusammen mit der zusammengerollten Leinwand legte er sie in die Schublade zurück.
»Du hast keine von ihnen rahmen lassen«, sagte sie.
Er antwortete nicht. Er schob die Schublade zu und ging zum Schreibtisch, spielte mit dem Computer, schaltete das Schreibtelefon ein, starrte auf den Bildschirm.
»Aber laß nur. Ich weiß schon, warum du sie versteckst«, fuhr Glyn fort. Sie trat hinter ihn, sprach dicht an seinem Ohr. »Wie viele Jahre lebst du schon so, Anthony? Zehn? Zwölf? Wie um Gottes willen hältst du das aus?«
Er senkte den Kopf. Sie blickte auf seinen gebeugten Nacken und erinnerte sich plötzlich, wie weich sein Haar war, wie es sich, wenn es zu lang war, zu ringeln pflegte wie das eines Kindes. Jetzt begann es grau zu werden.
»Was hat sie sich denn erhofft? Elena war deine Tochter.
Sie war dein einziges Kind. Was um alles in der Welt hat sie sich erhofft?«
Er gab flüsternd Antwort, aber so, als spräche er mit jemandem, der nicht im Zimmer war. »Sie wollte mich verletzen. Anders konnte sie es mir nicht begreiflich machen.«
»Was denn?«
»Wie es ist, wenn man vernichtet wird. Wie ich sie vernichtet hatte. Durch Feigheit. Selbstsüchtigkeit. Ichbezogenheit. Aber vor allem durch Feigheit. Du willst den PenfordLehrstuhl doch nur aus Eitelkeit, hat sie gesagt. Du willst ein schönes Haus und eine schöne Frau und eine Tochter, die dir wie eine Marionette gehorcht. Damit die Leute voller Bewunderung zu dir aufblicken und dich beneiden. Damit die Leute sagen, dieser Glückspilz hat wirklich alles, was man sich wünschen kann. Aber das stimmt gar nicht. Du hast praktisch nichts. Du hast weniger als nichts. Weil das, was du hast, Lüge ist. Und du besitzt nicht einmal den Mut, das zuzugeben.«
Die Erkenntnis, als ihr die volle Bedeutung seiner Worte aufging, traf Glyn wie ein Schlag. »Du hättest es verhindern können! Wenn du ihr nur gegeben hättest, was sie wollte. Anthony, du hättest es verhindern können!«
»Nein. Ich mußte an Elena denken. Sie war hier in Cambridge, in diesem Haus, bei mir. Sie fing an, sich zu öffnen, ganz langsam, sie legte ihre Befangenheit ab. Sie ließ mich näher an sich heran. Ich konnte nicht riskieren, sie noch einmal zu verlieren. Und ich glaubte, ich würde sie verlieren, wenn ich...«
»Du hast sie doch trotzdem verloren!«
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