05 - Denn bitter ist der Tod
große Hilfe, nicht? Aber wissen Sie, das ist drei Tage her, und damals wußte ich doch nicht, daß ich nach ihr gefragt werden würde. Ich meine, Leute, die einem zufällig über den Weg laufen, sieht man sich doch nicht so genau an.« Rosalyn schnaufte unglücklich, ehe sie allen Ernstes sagte: »Aber wenn Sie mich vielleicht hypnotisieren wollen, so wie das manchmal mit einem Zeugen gemacht wird, der sich an Einzelheiten eines Verbrechens nicht erinnern kann...«
»Es ist schon gut«, sagte Lynley und kam zurück auf den Fußweg. «Glauben Sie, daß sie Ihr Sweat-Shirt deutlich gesehen hat?«
»Ich denke schon.«
»Auch den Namen?«
»Queen's College, meinen Sie? Ja. Den wird sie gesehen haben.« Rosalyn blickte zum College zurück, obwohl sie es auf diese Entfernung nicht einmal an einem klaren Tag hätte sehen können. Als sie sich ihnen wieder zuwandte, wirkte sie bedrückt, aber sie sagte nichts. Erst als ein junger Mann, der vom Coe Fen über die Brücke kam, klirrend die zehn Eisenstufen hinunterstieg und mit gesenktem Kopf an ihnen vorbei in den Nebel lief, der ihn schnell verschluckte, sagte sie leise: »Dann hat Melinda doch recht gehabt. Georgina ist an meiner Stelle gestorben.«
Lynley wollte das junge Mädchen nicht mit solchen Schuldgefühlen belasten. Er sagte: »Das wissen wir nicht mit Sicherheit«, obwohl er zu demselben Schluß gekommen war.
Rosalyn zog einen der Kämme aus ihrem Haar und packte eine lange Locke. »Hier«, sagte sie. Dann zog sie den Reißverschluß ihres Anoraks auf und deutete auf das Emblem auf ihrer Brust. »Und hier. Wir haben die gleiche Größe, das gleiche Gewicht. Wir sind beide blond. Wir sind beide am Queen's. Die Person, die Georgina gestern aufgelauert hat, hat sie mit mir verwechselt. Mich wollte sie töten. Weil ich etwas gesehen hatte. Weil ich etwas weiß. Weil ich etwas hätte verraten können. Und ich hätte es auch getan, ich hätte es tun sollen... Und wenn ich es getan hätte, dann wäre Georgina jetzt nicht tot.« Sie wandte sich ab.
Lynley wußte, daß er wenig oder nichts sagen konnte, um sie zu trösten.
Jetzt, mehr als eine Stunde später, holte Lynley tief Atem und stieß die Luft langsam aus, während er auf das Gebäude der Polizeidienststelle starrte.
»Es hatte also nichts mit der Tatsache zu tun, daß Elena Weaver schwanger war«, sagte Barbara. »Und jetzt?«
»Warten Sie hier auf St. James. Ich möchte wissen, was er uns über die Tatwaffe sagen kann. Und geben Sie ihm die Boxhandschuhe.«
»Und Sie?«
»Ich fahre zu den Weavers.«
»Gut.« Noch immer stieg sie nicht aus. Er spürte, daß sie ihn ansah. »Nur Verlierer, nicht wahr, Inspector?«
»Das ist bei einem Mord immer so«, sagte er.
Die beiden Autos der Weavers standen nicht in der Auffahrt, als Lynley vorfuhr. Aber das Tor der Garage war geschlossen. In der Annahme, daß man die Autos wegen der Feuchtigkeit hineingestellt hatte, ging er zur Haustür und läutete. Aus dem Garten hinter dem Haus hörte er das Bellen des Hundes, gleich darauf aus dem Inneren des Hauses die Stimmen einer Frau, die dem Hund befahl, ruhig zu sein. Dann wurde die Tür geöffnet.
Lynley, der mit Justine Weaver gerechnet hatte, war im ersten Moment verblüfft, als er an ihrer Stelle eine große, ziemlich stattliche Frau mittleren Alters sah, die einen Teller mit belegten Broten in der Hand hatte. Die Brote rochen durchdringend nach Thunfisch.
Lynley erinnerte sich seines ersten Gesprächs mit den Weavers und der Bemerkung, die Anthony Weaver über seine geschiedene Frau gemacht hatte. Dies also mußte Glyn Weaver sein, Elenas Mutter.
Er zeigte ihr seinen Ausweis und stellte sich vor. Sie sah sich den Ausweis genau an und gab ihm so Gelegenheit, sie näher zu mustern. Nur was die Größe anging, war sie Justine Weaver ähnlich. Ansonsten war sie ihr absolutes Gegenteil. Bei ihrem Anblick, dem graumelierten Haar, das unattraktiv zu einem Knoten zusammengedreht war, dem faltigen Gesicht mit der schlaffen Haut an Kiefer und Hals, den breiten Hüften, über denen der grobe Tweedrock spannte, mußte Lynley an Victor Heringtons Beschreibung seiner Frau denken und schämte sich, weil er sie genauso taxierte und verwarf.
Glyn Weaver sah von seinem Ausweis auf. Sie hielt ihm die Tür auf. »Kommen Sie herein«, sagte sie. »Ich wollte gerade zu Mittag essen. Möchten Sie auch etwas?« Sie hielt ihm einladend den Teller hin. »Mehr war leider nirgends zu finden. Die jetzige Frau meines geschiedenen
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