05 - Der Kardinal im Kreml
Lebensmittelgeschäften würden ihm seine KGB-Kontakte dann nicht verschaffen können. An der Arbeitsstelle, sogar auf der Straße, würde man ihm nicht mehr den gewohnten Respekt zollen. Nein, dachte er, das halte ich nicht aus.
Also überlaufen? Sich von einem der mächtigsten Männer der Welt in einen Mietling verwandeln, der das, was er weiß, gegen Geld und ein bequemes Leben eintauscht? Gerasimow wußte, daß seine äußeren Verhältnisse erträglich sein würden - aber wie sollte er den Verlust der Macht verschmerzen?
Also, was tun?
Er mußte seine Position ändern, die Spielregeln, etwas Dramatisches tun. Aber was? .
Hatte er wirklich nur die Wahl zwischen Schmach und Flucht? Mußte er tatsächlich - mit dem Ziel im Auge - alles verlieren, für das er gearbeitet hatte?
Sowjets sind keine Spielernaturen.
Die Globalstrategie des Landes hat schon immer an das Nationalspiel Schach erinnert: eine Reihe vorsichtiger, geplanter Züge machen, immer die eigene Position decken, wenn immer möglich mit kleinen Schritten vorankommen. Auch das Politbüro hatte fast immer so gehandelt. Zur Hälfte setzte es sich aus Apparatschiks zusammen, die die entsprechende Sprache sprachen, die erforderlichen Normen erfüllten, sich jeden kleinen Vorteil zunutze machten und mit Dickfelligkeit, die sie im Kreml zur Schau stellten, nach oben gekommen waren. Funktion dieser Männer war ein dämpfender Einfluß auf jene, die herrschen wollten, auf die Vabanquespieler. Zu letzteren gehörten Narmonow und auch Gerasimow selbst, der nun plante, sich mit Alexandrow zu verbünden und Wanejew und Jasow zum Verrat an ihrem Herrn zu erpressen.
Ein raffiniertes Spiel, das Gerasimow nicht so einfach aufgeben konnte. Wieder mußte er die Regeln ändern, aber bei diesem Spiel ging es eigentlich nur um eins: das Gewinnen.
. Gerasimow nahm den Schlüssel aus der Tasche und sah ihn sich zum ersten Mal im Schein seiner Schreibtischlampe genauer an. Eigentlich sah er ganz gewöhnlich aus, aber wie vorgesehen benutzt, konnte er den Tod von vielleicht fünfzig Millionen Menschen, wenn nicht gar hundert verursachen. Die Männer des Dritten Direktorats auf den U-Booten und bei den landgestützten Raketen verfügten über diese Macht der sampolit, der Politoffizier allein war zur Aktivierung der Sprengköpfe ermächtigt, ohne die die Raketen nur Feuerwerkskörper darstellten. Dieser Schlüssel, im richtigen Augenblick umgedreht, verwandelte die Raketen in die furchterregendsten Vernichtungsinstrumente, die die Menschheit je gekannt hatte. Und wenn die Raketen erst einmal flogen, konnte nichts sie aufhalten...
Doch das sollte sich ändern.
Was war es wert, der Mann zu sein, der das zuwege brachte?
Gerasimow lächelte. Das war mehr wert als alle Regeln zusammen. Hatten nicht die Amerikaner selbst gegen die Regeln verstoßen, als sie auf dem Rangierbahnhof ihren Kurier töteten? Er griff nach dem Telefon und verlangte einen Fernmeldeoffizier. Zeit für ein Interkontinentalgespräch.
Dr. Taussig war überrascht, als sie das Signal sah. Es war Anns Eigenheit, nie von der Routine abzuweichen. Obwohl sie so ganz impulsiv bei ihrer Kontaktperson aufgetaucht war, fuhr sie zum Einkaufszentrum, weil das zu ihrer Samstagsroutine gehörte. Auf dem Parkplatz sah sie Anns Volvo, dessen Sonnenblende auf der Fahrerseite heruntergeklappt war. Beatrice Taussig schaute auf die Uhr und schritt rascher auf den Eingang zu. Drinnen wandte sie sich nach links.
Peggy Jennings arbeitete heute allein. Beim FBI herrschte eine solche
Personalknappheit, daß der Job nicht so rasch erledigt werden konnte, wie Washington es erwartete, aber das war nichts Neues. Der Ort war günstig und ungünstig zugleich. Es war einfach, ihre Zielperson bis zum Einkaufszentrum zu verfolgen, doch drinnen konnte ihr nur ein Team von Agenten auf der Spur bleiben. Sie erreichte den Eingang eine Minute nach Beatrice Taussig und wußte schon, daß sie sie verloren hatte. Nun, mit der Observation wurde ja erst begonnen. Die Routine bringt's, sagte sich Peggy Jennings beim Offnen der Tür.
Beatrice Taussig war nirgends zu sehen. Agentin Jennings schlenderte an den Schaufenstern entlang und fragte sich, ob Dr. Taussig wohl ins Kino gegangen war.
«Hallo, Ann!»
«Bea!» rief Tanja Bisjarina in der Boutique. «Wie geht's?»
«Sehr beschäftigt», erwiderte Dr. Taussig. «Das steht Ihnen aber toll!» «Sie hat eben eine Idealfigur», stellte die Inhaberin fest.
«Was man von mir leider nicht behaupten kann»,
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