0506 - Das unheimliche Grab
vor sich hin? Nur von ihr stammten die schluchzenden Geräusche. Um wen weinte sie? Wer lag in der feuchten Erde? Kannte sie ihn vielleicht? War er mit ihr verwandt?
Tommy schaute sich um. Das unheimliche Skelett konnte er nirgendwo entdecken. Es hielt sich versteckt oder war zu einem anderen Ziel gegangen. Niemand außer ihm selbst befand sich noch in der Nähe der weinenden Frau. Vor Aufregung hatte er feuchte Hände bekommen und wischte sie an seiner Jeans ab.
Dann ging er auf das Grab zu. Er kümmerte sich auch nicht um eine Deckung, da er sowieso mit der Frau reden wollte.
Sie nahm von ihm keine Notiz. Es war nicht einmal zu erkennen, ob sie ihn überhaupt gesehen hatte.
Zusammengesunken hockte sie auf der Grabplatte. Mit der linken Hand stützte sie den Kopf ab.
Sie saß unbeweglich. Hin und wieder nur zuckte ihr Gesicht, wenn die schluchzenden Laute aus ihrem Mund drangen.
Als Tommy sich ihr näherte, kümmerte sie sich auch nicht um ihn.
Er blieb direkt vor ihr stehen, wußte aber nicht, wie er sie ansprechen sollte. Ihm fehlten einfach die Worte.
***
Es war Galinka Bachmann, die schließlich den Kopf hob und ihn anschaute. Sie wischte Tränenspuren aus ihren Augen und nickte dem jungen Mann zu. »Du hast mich also gefunden?«
»Ja, ich bin nicht gegangen.«
»Weshalb nicht?«
»Ich weiß nicht, tut mir leid. Vielleicht wollte ich sehen, was Sie hier mitten in der Nacht allein machen.«
»Jetzt siehst du es.«
»Ja, Sie weinen hier. Aber wieso? Weshalb sitzen Sie hier auf dem Grab und…«
»Junge, das ist eine lange Geschichte.«
»Ich habe Zeit.«
Galinka lachte krächzend. »Nein mein Junge, ich werde sie dir nicht erzählen. Du würdest sie auch nicht verstehen, glaube ich.«
»Hängst sie mit dem Skelett zusammen?«
»Auch.«
»Und womit noch.«
Galinka Bachmann seufzte, streckte den rechten Arm aus und stützte sich auf dem Grabstein ab. So konnte sich die Frau besser in die Höhe stemmen. Erst jetzt sah Tommy, daß auf dem Grab noch frische Blumen lagen. Es waren Herbstastern.
»Ich werde jetzt gehen«, sagte die alte Galinka.
»Und wohin?«
»Vielleicht nach Hause.«
»Wo wohnst du denn?«
»Weißt du das denn nicht?«
»Man sagt im Nachbarort…«
»Ja, ungefähr.« Sie nickte.
»Aber ich will das Haus wissen. Vielleicht komme ich dich mal besuchen, dann kannst du mir die Geschichte genau erzählen. Oder willst du das nicht, dann sag es.«
»Mein Junge.« Sie lächelte ihn spröde an. »Es gibt Dinge, in die sollte man sich nicht einmischen. So verhält es sich auch hier, verstehst du das?«
»Ja, schon, aber…«
»Kein Aber mehr. Ich muß und ich will jetzt allein sein. Alles andere spielt keine Rolle. Gute Nacht…«
Wieder drehte sie ihm den Rücken zu und ging. Auch jetzt traute sich Tommy nicht, die Frau zu verfolgen. Er blieb einfach stehen und kam sich selbst vor wie ein Stück dieses großen Waldes.
Viel hatte er nicht erreichen können. Er wußte nur, daß es um dieses Grab ein Geheimnis gab und daß dieses Geheimnis auch mit dem unheimlichen Knochenmann zusammenhing. Worum es aber genau ging, darüber hatte ihm die alte Frau nicht Bescheid gegeben.
Tommy schaute sich das Grab an. Es war schon ein unheimliches Gefühl, in der Finsternis um ein Grab zu schleichen. Ihn umgaben jetzt wieder die Geräusche der Nacht. Das Rascheln kam ihm vor, als wären Totenfinger aus der Erde gekrochen, um trockenes Laub zwischen ihren kalten Klauen zu zerreiben.
Unkraut hatte die Grabfläche überwachsen. Die Herbstastern wirkten irgendwie deplaziert. Tommy legte seine Hände auf die Grabsteinkante und versuchte, den Stein zu bewegen.
Das klappte nicht. Er war fest im Boden verankert. Da er so nichts herausfand, beschloß er, den unheimlichen Ort zu verlassen und nach Hause zu gehen.
Das Fahrrad wollte er am nächsten Tag abholen. Es war schon weit nach Mitternacht, als er das Haus seiner Eltern erreichte. Er brauchte glücklicherweise nicht durch die normale Haustür zu gehen. Es gab da einen kleinen Seiteneingang, zu dem er auch den Schlüssel besaß.
Er öffnete. Die Schuhe zog er aus. Auf Socken schlich er die schmale Treppe hoch bis unter das Dach, wo sein Zimmer mit den schrägen Wänden lag.
Tommy betrat eine andere Welt.
Er machte sofort Licht. Die Helligkeit hatte ihm so gefehlt. An den schrägen Wänden sah er die Posters der Rockstars, er schaute auch auf seinen roten Helm, er sah die alte Gitarre in der Ecke, das Bett, die HiFi-Anlage, den Kopfhörer, den
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