051 - Die gelbe Schlange
standen keine Wohnhäuser, sondern hauptsächlich Geschäftsbauten, wie ein großes Restaurant, ein oder zwei Tanzklubs und zahlreiche Büros. Die Tür des Hauses Nr. 704 war ganz mit Messingschildern bedeckt, die die verschiedensten Gewerbe- und Handelsbetriebe anzeigten, welche in diesem Haus ansässig waren. Ganz oben waren die Worte aufgemalt: ›Madame Ferroni, Modistin, 3. Stock, Rückseite‹. Joan konnte sehen, daß die Farbe noch feucht war.
Sie entließ den Chauffeur, um Mr. Narths Wunsch nachzukommen, und stieg die Treppe hinauf. Schließlich kam sie, etwas außer Atem, an eine Tür, die in frischer, noch feuchter Schrift den Namen der Modistin trug. Joan klopfte an und wurde sofort eingelassen. Die Frau, die ihr öffnete, hatte ein dunkles, abstoßendes Gesicht. Sie war in Schwarz gekleidet, was ihre gelbe Hautfarbe noch unterstrich. Unter ihren schräggeschnittenen Augen lagen blaue Schatten, ihre Lippen waren dick und ihre Nase breitgedrückt.
Es hätte sie nichts beunruhigt, wenn nicht der Raum, in den sie eintrat, fast leer gewesen und die Tür nicht sofort hinter ihr abgeschlossen worden wäre.
Joan sah sich um, im Zimmer standen außer einem großen Kleiderschrank nur noch ein Sessel und ein gedeckter Teetisch. Der Teekessel dampfte. Aber es waren keine Kleider zu sehen, vielleicht hingen sie in dem großen Schrank.
»Bitte, erschrecken Sie nicht, Miss Bray«, sagte die gelbe Frau und bemühte sich, liebenswürdig zu erscheinen, was ihr flaches Gesicht nur noch unangenehmer machte. »Hier habe ich keine Kleider. Ich empfange hier nur meine Kunden.«
»Warum haben Sie denn die Tür zugeschlossen?« fragte das Mädchen. Obwohl sie ihren ganzen Mut zusammennahm, fühlte sie doch, wie das Blut aus ihren Wangen wich.
Madame Ferroni verneigte sich zweimal in dem ängstlichen Bemühen, das Vertrauen ihres Besuches nicht zu erschüttern.
»Ich möchte nicht gestört werden, wenn ich eine wichtige Kundin hier habe, Miss Bray«, erklärte sie. »Sie wissen, daß Ihr Onkel, Mr. Narth, sehr viel Geld in dieses Geschäft gesteckt hat, und ich möchte ihn zufriedenstellen. Das ist doch verständlich. Die Kleider sind in meinem Geschäft in der Savoy Street, und wir werden sofort hingehen. Dann können Sie sich alles aussuchen, was Sie wünschen. Aber erst würde ich mich gern mit Ihnen unterhalten, um zu erfahren, was Sie brauchen.«
Sie sprach, als ob sie Sätze rezitierte, die sie auswendig gelernt hatte.
»Sie müssen eine Tasse Tee mit mir trinken«, fuhr sie fort. »Das ist eine Gewohnheit, die mir lieb geworden ist, seitdem ich in diesem Land lebe.«
Joan war nicht besonders interessiert an Gewohnheiten, ausgenommen an der Gewohnheit, bei Kundenbesuch Türen abzuschließen.
»Madame Ferroni, ich kann leider nicht länger hierbleiben. Ich werde später noch einmal kommen.«
Joan zog den grünen Vorhang auf, aber sie konnte die Tür nicht öffnen, der Schlüssel war abgezogen.
»Gewiß, wie Sie wollen!« Madame Ferroni zuckte die Achseln. »Aber ich werde meine Stellung verlieren, wenn ich Sie nicht bedienen kann.«
Madame Ferroni trat an den Teetisch, goß die starke, dunkelbraune Flüssigkeit in eine Tasse und gab viel Milch dazu. Dann überreichte sie Joan das Getränk. Joan brauchte eine Erfrischung, ihr Mund war trocken, und das Sprechen fiel ihr schwer.
Joan gab sich alle Mühe, die Frau nicht merken zu lassen, daß sie sich fürchtete, und daß die ungewöhnliche Art, in der diese Modistin ihre Kunden empfing, sie mißtrauisch gemacht hatte. Sie rührte den Tee um und trank ihn hastig, als die Frau den Schlüssel vom Tisch nahm, zur Tür ging und aufschloß.
Madame Ferroni drehte den Schlüssel aber zweimal herum, einmal schloß sie auf und ein zweites Mal wieder zu. Doch das bemerkte Joan nicht.
»Jetzt setze ich meinen Hut auf, und dann können wir gehen«, lächelte Madame Ferroni süßlich. »Fitzroy Square gefällt mir nicht, es ist hier so langweilig. Ich sagte Mr. Narth gleich, daß die Kundinnen nicht gern drei Treppen hoch steigen, um Kleider anzuprobieren... «
Die Tasse fiel aus Joans Hand und brach in Scherben. Mit der Behendigkeit einer Tigerin sprang Madame Ferroni quer durch das Zimmer, fing das bewußtlose Mädchen auf und legte es sanft auf den Boden.
Kaum hatte sie das getan, als ein lautes Pochen an der äußeren Tür polterte. Madame Ferronis Gesicht wurde grün.
»Ist jemand da?«
Es war eine befehlsgewohnte Stimme, und die Frau zitterte. Ihre Hand faßte den
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