051 - Die gelbe Schlange
Kraftanstrengung tastete Joan sich schließlich bis zum Wasserhahn hin. Sie drehte ihn auf, fing mit den zusammengelegten Händen das Wasser auf und löschte erst mal ihren brennenden Durst. Dann tat sie etwas, wozu die meisten Frauen sich nur schwer entschließen können: Sie hielt ihren Kopf unter den kalten Wasserstrahl und war froh, daß sie kurze Haare hatte. Ihre Kopfschmerzen hatten etwas nachgelassen, und Joan blickte sich nach einem Handtuch um. Sie fand ein ganz neues, sauberes, das über einer Rolle hing, und es hatte ganz den Anschein, als ob es ausdrücklich für ihren Gebrauch bestimmt war. Während Joan sich trockenrieb, begann sie wieder klarer zu denken. Jetzt war sie davon überzeugt, daß dieser Raum für sie eingerichtet worden war. Neben dem Feldbett stand ein Stuhl mit einem Tablett mit Kaffee und Brötchen.
Wie spät mochte es sein? Joans Armbanduhr zeigte halb fünf. Um drei Uhr hatte sie Madame Ferronis verhängnisvolles Zimmer betreten. Seitdem waren eine und eine halbe Stunde vergangen - wohin war sie in dieser Zeit verschleppt worden?
Joan setzte sich auf die Bettkante und versuchte, ihre konfusen Gedanken zu ordnen und einigermaßen Klarheit über ihre Lage zu gewinnen. Unter dem Bett schaute ein Zipfel schmutziger, grüner Sackleinwand hervor, und Joan konnte drei Buchstaben lesen: ›Maj.‹ Entschlossen zog sie den Sack hervor und las die verblaßte Inschrift: ›Major Spedwell, S. & M. Puna.‹ Wer war doch Major Spedwell? Sie versuchte, sich zu erinnern. Irgendwo hatte sie ihn getroffen... Natürlich, er war bei jenem Lunch in Mr. Narths Büro erschienen, den Clifford Lynne so plötzlich unterbrochen hatte. War sie wohl noch am Fitzroy Square? Und wenn sie nicht mehr dort war, wo befand sie sich jetzt, und wie war sie hierhergekommen...? Das Oberlicht war aus undurchsichtigem Glas, aber Joan konnte sehen, wie der Regen in kleinen Bächen daran niederfloß, und sie konnte das Sausen des Windes hören.
Joan machte sich keine Illusionen darüber, in wessen Gewalt sie gefallen war. Unwillkürlich brachte sie das dunkle Gesicht Madame Ferronis mit dem gelben Mann in Verbindung, dessen entsetztes Gesicht sie im grellen Licht der Magnesiumflamme gesehen hatte. Sie war in den Krallen Fing Sus! Ihr Herz krampfte sich bei diesem Gedanken zusammen. Und Stephen hatte sie an diesen schrecklichen Ort geschickt... Diese Erkenntnis tat ihr weh, denn obgleich sie ihn nicht liebte, hatte sie ihn doch niemals einer solchen Niedertracht für fähig gehalten.
Joan sprang auf, als sich die Tür öffnete, und sofort erkannte sie den Mann wieder, der jetzt hereinkam.
»Sie sind Major Spedwell!«, stellte sie fest und war selbst überrascht, wie heiser ihre Stimme klang.
Er war einen Augenblick verblüfft.
»Stimmt, ich bin Major Spedwell. Sie haben ein ausgezeichnetes Gedächtnis, mein Fräulein!«
»Wo bin ich hier?« fragte sie.
»An einem sicheren Ort. Und Sie brauchen keine Angst zu haben, es wird Ihnen nichts geschehen. Ich habe zwar eine Menge auf dem Gewissen« - er zögerte einen Augenblick -»vom Betrug bis zum Totschlag - aber ich bin doch nicht so heruntergekommen, daß ich zulassen würde, daß Fing Su Ihnen etwas antut. Sie sind hier als Gast.«
»Und warum?«
»Das war unvermeidlich!« meinte er mit einem freudlosen Lächeln. »Sie wissen ja Bescheid - Fing Su braucht diese Aktie von Clifford Lynne, und ich glaubte, daß er schon mit Ihnen darüber gesprochen hat. Dieses Papier bedeutet eben ungeheuer viel für uns.«
»Und Sie bilden sich ein, daß Mr. Lynne Ihnen diese Aktie als Lösegeld für mich geben wird?«
»Das ist der Sinn dieser Aktion«, erklärte Spedwell und warf einen verwunderten Blick auf ihr nasses Haar.
Ihre Lippen kräuselten sich.
»Ihr Freund hat anscheinend eine hohe Meinung von der Ritterlichkeit Mr. Lynnes.«
»Oder von seiner Liebe«, antwortete Spedwell ruhig. »Fing Su glaubt, daß Clifford Lynne alles für Sie tut, und daß er ohne Zögern sofort die Aktie herausgeben wird.«
»Nun, dann kann ich mit Vergnügen feststellen, daß Fing Su einen schweren Schock erleiden wird«, sagte Joan. »Mr. Lynne und ich lieben uns nicht - wir werden auch nicht heiraten, denn die Hochzeit ist nicht mehr nötig, weil -«
Sie hielt erschrocken inne, beinahe hätte sie die Rückkehr Joe Brays erwähnt.
»Keine Hochzeit, weil Joe Bray lebt, nicht wahr? Ich bin völlig im Bilde«, lächelte Spedwell sarkastisch. Sein Lächeln kam und ging mit unglaublicher
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