051 - Im Orbit
mit diesen Sinneseindrücken nicht lange auf. Die Wirkung der Pilzsporen waren ihm inzwischen so vertraut wie früher der Straßenverkehr in Toulouse.
Er überlegte, was noch zu erledigen war: die Chronik beenden; den Computer so programmieren, dass er die Dateien auf der Festplatte alle fünfzig Jahre überprüfte und neu speicherte; Kameras und Messinstrumente durchchecken; dem Navigationsrechner befehlen, dass er die Kurskorrekturen der Raumstation selbstständig und in den notwendigen Intervallen vornahm. »Ich will es schaffen, bevor die Sonne das nächste Mal aufgeht, Maman. Vielleicht ein Viertelstunde noch.« Die Greisin ließ sich nicht anmerken, ob diese Auskunft sie zufrieden stellte oder nicht.
Er angelte das Fläschchen mit der Aufschrift »SARI« aus seiner Brusttasche und nahm den Rest des Anticannabinoids. Während die Substanz den Weg über das Verdauungssystem in sein Blut fand, betrachtete er die Greisin. Der Gedanke, dass es nicht seine Mutter sein könnte, die der Pilz ihm da ins Hirn zauberte, kam ihm nicht. Er wusste einfach, dass sie es war. Dabei war seine Mutter erst vierunddreißig Jahre alt gewesen, als er sie zum letzten Mal gesehen hatte. Und er selbst sieben Jahre. Nicht einmal der Augenblick, als er unwiderruflich allein in der Raumstation zurückblieb, war so scheußlich gewesen wie jene Minuten vor dem Sarg seiner Mutter.
Er wartete auf die Wirkung des Gegenmittels und dachte an seinen Vater.
»Wird Papa auch da sein?« Sein Vater hatte sich ein halbes Jahr nach dem Krebstod seiner Frau erschossen.
Taurentbeques Großvater hatte dafür gesorgt, dass das Waisenkind in den Eliteinternaten Frankreichs aufwuchs. In Einrichtungen, in denen man lernen musste, schneller und entschlossener zuzugreifen als die anderen, wollte man bei Tisch das beste Stück erwischen.
Statt zu antworten verblasste die Frauengestalt hinter dem Muskeltrainer. Noch immer hielt er das Gläschen in der Hand. Er blickte hinein: Nur noch ein paar weiße Krümel. Nicht genug für eine weitere Dosis. Die Vorräte lagerten in den Kühlfächern des Columbus-Moduls. Der Weg dorthin blieb auf Jahre hin verschlossen. Jedenfalls für einen todkranken Mann wie ihn. Fünfzig Jahre und länger konnte es dauern, bis der Pilz in den oberen Modulen keine Nahrung mehr fand und sein Wachstum einstellen musste.
Taurentbeque schwang seinen Hocker herum. Viel Zeit blieb ihm nicht mehr. Wie von selbst flogen seine Finger über die Tastatur:
Hagen war es, der schließlich das Schweigen brach. »Okay, Sean - X-38 ist ohne dich abgeflogen, du hast es geschafft. Und jetzt?«
»Wo ist Marsha?« Bernstein schwebte mit geschlossenem Helm vor seiner Kommunikationskonsole.
»Irgendwo in Australien oder Indonesien«, behauptete Hagen. Ich versuchte zuerkennen, von wo aus Bernstein Kontakt mit uns aufgenommen hatte. Doch er hatte sich so nahe vor der Kamera platziert, dass ich keine Einzelheiten des Moduls erkennen konnte, in dem er sich versteckt hielt.
»Wo ist Marsha?«, wiederholte er, und sein Gesicht war das Gesicht eines Racheengels.
»Bist du schwerhörig?« Hagen konnte eiskalt sein. »Sie hat sich für den Rückflug entschieden. Wärst du nicht ausgestiegen, wüsstest du, wo sie ist.«
»Ich will den Kommandanten sprechen.«
»Ragojew hat außerhalb der Station zu tun.«
»Ihr habt ihn getötet!«
Unsere Antwort war Schweigen, und Bernstein verstand sie. Der Monitor wurde dunkel. Vermutlich hatte er Ragojews Todeskampf über den Bordfunk mitverfolgt.
»Was jetzt?«, wollte Hagen wissen.
Wir analysierten die Situation. Ich erfuhr, dass Hagen die bewusstlose Afroamerikanerin in die Zentrifuge gebracht hatte. Einig waren wir uns in der Einschätzung, dass Bernstein versuchen würde, die geliebte Frau zu finden. Natürlich erwogen wir auch die Möglichkeit eines Sabotageakts auf das Shuttle, kamen aber zu dem Ergebnis, dass Bernstein sich den Fluchtweg aus der ISS nicht freiwillig abschneiden würde.
Die ISS besteht aus wenig mehr als einem Dutzend Modulen. Bernstein würde die gesamte Raumstation nach Marsha durchkämmen. Irgendwann mußte er zwangsläufig in der Zentrifuge auftauchen. Verzweifelt und wütend, wie er war, würde er sich eine Chance gegen uns vorgaukeln. Trotz der Waffe, über die wir verfügten.
Zu zweit und mit entsicherter Pistole machten wir uns auf den Weg zur Zentrifuge. Im Unity-Modul, über dem Einstieg zur Schleuse der Rettungsfähre schwebte noch immer Yakumoris Leiche. Später fror ich sie in
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