051 - In den Katakomben des Wahnsinns
beinahe zu einer legendären Gestalt in dieser Gegend geworden war,
die man fürchtete wie die Pest, deren Mutter man auf offener Straße anspuckte
und als Hexe beschimpfte? Sie musste sich ihre Lebensmittel vom Nachbardorf
bringen lassen, weil die Händler im eigenen Dorf ihr nichts mehr verkauften.
Morna Ulbrandson war auf Weisung von X-RAY-1 hier eingetroffen, um dem Spuk
ein Ende zu bereiten. Einige Leute behaupteten von Ann Muller, man hätte sie
niemals beerdigt, während die Krankengeschichte, in die die Schwedin Einblick
genommen hatte, eindeutig die bösartige Krankheit nachwies, die zum Tode
geführt hatte.
In der Kapelle, in der etwa hundert Menschen Platz fanden, war es finster.
Nicht eine einzige Kerze brannte. Vorn vor dem Altar stand auf einem flachen
Podest ein Sarg. Er war verschlossen. Offenbar bereitete der Totengräber ein
neues Begräbnis vor.
Morna blickte sich um.
» Mister Hutch ?«, rief sie leise.
Ihre Stimme klang wie ein Pistolenschuss durch die Stille.
Sie hörte das Geräusch der schlurfenden Schritte. Eine Tür in der Nische
neben dem Altar öffnete sich quietschend. Der schmächtige Alte, bleich,
unrasiert und in schäbiger Kleidung, tauchte im Türrahmen auf.
»Ah, Miss Ulbrandson«, sagte er leise. Seine Stimme klang belegt. Er nahm
die qualmende Zigarre aus dem Mund und kam näher. Er reichte der jungen Frau
die mit pergamentartiger, faltiger Haut überzogene Rechte.
»Dann kommen Sie mal mit. Sie sind zwar zu früh da, aber wir hatten ja
ausgemacht: bei Einbruch der Dämmerung.« Er lachte vor sich hin. »Es ist kaum
anzunehmen, dass bei diesem Wetter noch jemand auf den Friedhof kommt.«
Sie verließen die Kapelle. Hutch wandte sich nach links. Wortlos ging er zu
einem hinter einer dichten Buschgruppe stehenden Schuppen, in dem Schaufel,
Rechen und anderes Werkzeug aufbewahrt wurden. Die Lattentür war nur
eingehängt, nicht abgeschlossen.
Morna stand schräg hinter Hutch, der einen angerosteten Schubkarren aus der
hintersten Ecke holte, zwei Schaufeln in den Karren warf und dann wieder
hervorkam. An der Bretterwand hing, außer Rechen und mehreren sauber geputzten
Gießkannen, auch eine Sichel.
Hutch ließ die Tür offen, als er mit der Agentin zum Grab der Ann Muller
ging. Es befand sich etwa zehn Schritt von der Friedhofsmauer entfernt.
»Das Grab ist unberührt. Wie verabredet habe ich nicht damit begonnen, die
Blumen abzuräumen oder angefangen zu graben. Sie wollten ja von Anfang an dabei
sein.«
Morna nickte.
Der magere Hutch verstand es, mit der Schaufel umzugehen. Stolz erklärte
er, während er, nachdem die Blumen und Pflanzen weggeräumt waren, den feuchten,
schweren Boden aufgrub, dass sechzig Prozent aller Gräber von ihm ausgehoben
worden waren.
Morna Ulbrandson machte es nichts aus, beim Graben mitzuhelfen, obwohl
Hutch sich dagegen sträubte. Außer der Stimme des Totengräbers, die hin und
wieder einmal aufklang, außer den Geräuschen, die die grabende Schaufel
verursachte, war es völlig still.
Einmal wandte Morna sich um, weil es ihr so vorkam, als hätte sie Schritte
gehört.
»War da eben nicht etwas gewesen, Mister Hutch?« Sie ließ den Blick
schweifen. Es war schon dämmrig, und sie nahm die abseits stehenden Bäume und
Buschreihen, die schwarzen Grabsteine nur wie eine einzige Mauer wahr.
»Unsinn! Das werden die Tropfen sein, die von den Weiden fallen ...«
Hutch grub weiter. Er kam verhältnismäßig schnell voran. Er gönnte sich
kaum eine Verschnaufpause. Dann schimmerte der dunkle, von der Feuchtigkeit und
von der Erde schon angegriffene Holzsarg durch die Erde.
»Gleich haben wir's, Miss Ulbrandson ...«
Morna wusste, dass sie doppelt so schnell am Ziel gewesen wäre, wenn zwei
oder drei Männer gegraben hätten. Aber bewusst war der Kreis derer, die von der
Graböffnung wussten, klein gehalten worden. Es würde zu keiner großen Untersuchung
kommen. Morna wollte nur einen Blick in den Sarg werfen – und damit war die
Sache eigentlich schon erledigt.
Sie wusste dann, was mit Sicherheit auszuschließen war.
Hutch stieg vorsichtig in die Grube hinab. Mit der Schaufel legte er den
Sargdeckel frei. Dann schob er die Kante der Schaufel unter den Deckel und
schob ihn knarrend nach oben.
Morna Ulbrandsons Gesicht zeigte die innere Anspannung, unter der sie
stand.
Der Deckel rutschte auf die Seite. Die Agentin starrte in den geöffneten
Sarg und erblickte die bereits in Verwesung übergegangene Leiche. Von Ann
Muller war eigentlich
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