051 - In den Katakomben des Wahnsinns
nicht mehr viel zu erkennen.
Klar wurde der Schwedin, dass sie den Leichnam einer Frau vor sich hatte,
aber ob es wirklich Ann Muller war? Auf dem Grabstein stand zwar ihr Name –
aber das hatte in diesem Fall nicht
viel zu bedeuten.
Ein kalter Schauer rieselte ihr über den Rücken, als sie daran dachte, dass
die Leute, die behauptet hatten, Ann Muller erst vor kurzem gesehen zu haben,
vielleicht recht hatten. Und es gruselte ihr, als sie sich vorstellte, dass am
Tod Ann Mullers eigentlich nicht im Geringsten zu zweifeln war. Von ärztlicher
Seite bestand hundertprozentige Gewissheit.
Der Totengräber war in diesen Sekunden offensichtlich genauso benommen wie
sie selbst.
»Das ist nicht möglich«, hauchte
er, und er starrte auf die angeschimmelte Leiche. »Ich habe sie selbst
eingesargt. Ann Muller wurde mit ihrem Kopf beerdigt. Diese Leiche aber – hat keinen ...«
Ernst und verschlossen stieg Morna Ulbrandson in die Grube hinab. Sie kam
auf Hutchs Höhe zu stehen und beugte sich nach vorn, als suche sie etwas
Bestimmtes in dem Sarg. Die Bewegung rettete ihr das Leben.
Etwas zischte durch die Luft. Es hörte sich an, als würde ein Bauer eine
Sichel führen.
Sichel? Die Assoziation in Morna Ulbrandsons Gehirn und ihre Reaktion waren eins.
Sie warf sich nach vorn und sprang über den Sarg hinweg.
Hutch erwischte es.
Die Sichel trennte seinen Kopf vom Rumpf. Sekundenlang stand Hutch ohne
Kopf. Dann stürzte sein Körper dumpf nach vorn und legte sich quer über den
angeschimmelten Sarg. Sein Kopf rollte über den Sand und blieb am oberen
Sargende in einer Erdmulde liegen.
Sekundenlang war Morna Ulbrandson wie gelähmt.
Ihre Sinne begriffen das Ungeheuerliche, das unerwartet über sie
hereingebrochen war.
Sie drehte sich blitzschnell auf die Seite, um ihrem geheimnisvollen Gegner
nicht mehr den Rücken zu bieten.
Sie sah die schattengleiche Gestalt an der Grube, die Sichel schwingend,
die offensichtlich aus dem Schuppen hinter der Andachtskapelle stammte. Auf den
ersten Blick war nicht zu erkennen, ob es sich um einen Mann oder um eine Frau
handelte.
Jedenfalls war es das hässlichste menschliche Wesen, das Morna Ulbrandson
je zu Gesicht bekommen hatte.
Es trug einen dunklen, an mehreren Seiten aufgeschlitzten Umhang. Die
nackten Arme waren bis zu den Handrücken dicht behaart, und Morna glaubte in
diesem Augenblick des Entsetzens und der Furcht zu erkennen, dass die Hände
ungleich waren, die Finger der rechten Hand waren dicker, kräftiger und dichter
behaart als die der linken.
Der Schädel des Fremden war kahl, das harte, mit zahlreichen Warzen
bedeckte Gesicht hässlich und verzerrt.
Die Schwedin versuchte auf die Beine zu kommen und wollte dem Mörder mit
der Sichel keine Gelegenheit geben, auch ihr den Garaus zu machen. Mit
fiebernden Blicken tastete sie nach der kleinen Handtasche, die sie getragen
hatte, und in der die handliche Laserwaffe steckte, mit der alle Agentinnen und
Agenten der PSA ausgerüstet waren.
Zwei Fingerbreit trennten sie von dem kostbaren Besitz. Doch sie schaffte
es nicht. Wie ein Blitz stieß die messerscharfe Sichel neben ihr herab und
verfehlte sie im Augenblick des Hochkommens nur um Haaresbreite.
Morna Ulbrandson, deren Sinne und Reaktionen in tausend Gefahren geschult
und geschärft waren, behielt auch in dieser Sekunde eiskaltes Blut.
Sie verstand nichts von dem, was hier vorfiel, völlig grundlos war ein Mord
geschehen – aber sie handelte instinktiv und von dem Antrieb beseelt, ihr
eigenes Leben zu erhalten.
Noch ehe ihr unheimlicher Gegner dazu kam, die Sichel aus dem weichen,
feuchten Boden herauszuziehen und zu einem weiteren Schlag auszuholen, griff
Morna nach dem glatten, grauen Stiel. Sie packte gerade zu, als der Unheimliche
mit dem kahlen Schädel und dem entstellten Gesicht die Sichel hochriss. Morna
nutzte den Schwung des anderen voll aus. Als gutausgebildete Aikido- und
Taekwondo-Kämpferin verstand sie es, auch ohne Waffe einem gefährlichen Gegner
Widerstand zu leisten.
Sie wirbelte den Unheimlichen förmlich herum. Der andere kam auf dem
krumigen Boden ins Rutschen, verlor den Halt und ließ in seiner Überraschung
das obere Stielende los!
Morna ergriff sofort ihre Chance. Es kam ihr darauf an, den Gegner
festzunageln und herauszufinden, woher er kam, dass er ein solches Aussehen
hatte. Hing sein Erscheinen mit den merkwürdigen Gerüchten zusammen, die ihr
über die tote Ann Muller zu Ohren gekommen waren?
Die Agentin drehte den Stiel
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