0510 - Der Leichenzug
lag im Schutz der Nacht. Lichter brannten um diese Zeit so gut wie keine mehr. Nicht nur die Menschen waren eingeschlafen, auch die Häuser, die Kirche und alles andere, was noch dazugehörte.
Leer und verlassen lag die Hauptstraße vor ihm. Der bleiche Lichtkegel der beiden Scheinwerfer strich über die Fahrbahn, die mal gepflastert war und an anderen Stellen wiederum Löcher aufwies, die schon kleinen Mulden gleichkamen.
Marek bremste vor seiner Werkstatt. Es gab eine Verbindungstür von ihr ins Haus. Er entschied sich nicht dafür, in die Werkstatt zu gehen, er betrat sein Haus.
Die Tür knarrte noch immer. Das Geräusch wurde in den alten Bau hineingetragen.
Zwischen den Wänden war es nicht viel wärmer als draußen. Marek hatte vergessen, zu heizen. Er wollte es nachholen. Irgendwann einmal, wenn John Sinclair gefunden worden war.
Als er das Licht einschaltete – Elektrizität gab es in Petrila –, fiel ihm ein Umschlag auf, der dicht hinter der Tür lag. Er hob ihn auf und zerrte eine Nachricht hervor, die mit Bleistift auf liniertes Papier geschrieben worden war.
Manuela Micek, eine junge Frau, wollte ihn unbedingt sprechen.
Worum es ging, das hatte sie nicht geschrieben.
Marek legte den Brief zur Seite. »Das hat Zeit«, murmelte er und ging in die Küche, wo er sich an den klobigen Holztisch setzte. Es war sein Lieblingsplatz. Von hier aus konnte er aus dem Fenster zur Straße hin sehen und bekam alles mit.
Es war auch ein Platz, an dem er gern nachdachte. Hier hatte er schon zahlreiche Entschlüsse gefaßt und dabei seinem Gehirn eine gewisse »Nahrung« gegeben.
Die Nahrung nahm er in flüssiger Form zu sich. Marek braute sich seinen Schnaps selbst. Eine Mischung aus den Früchten des Waldes, die um Petrila herum noch wuchsen.
Das Wasserglas und die Flasche holte er von einem Regal. In der Ecke neben der schon etwas verblichenen Fotografie seiner Frau hatte er die Lampe angezündet. Das Licht gab einen warmen Schein, ohne ihn direkt zu blenden.
Rechts neben sich legte der alte Marek seinen Pfahl. Dann goß er das Wasserglas halbvoll und prostete dem Bild seiner geliebten Frau zu. »Auf dich, Marie, und darauf, daß du für immer deine Ruhe haben wirst.« Er trank das Glas halbleer. In seinen Augen glitzerte es. Nicht der Alkohol trug daran die Schuld, daß ihm das Wasser in die Augen stieg. Es war meist die Erinnerung an Marie.
Als er das Glas absetzte und über die rauhe Tischplatte schob, huschte ein freudloses Lächeln über seine Lippen. Er starrte dabei ins Leere. Vom Magen her breitete sich die Wärme aus. Eine Folge des scharfen Alkohols. Sie drang hoch bis in die Kehle, wo sie sich festsetzte. Marek hätte jetzt Feuer spucken können.
John Sinclair war verschwunden!
Davon ging er zunächst aus. Dem Geisterjäger war es nicht gelungen, dem unheimlichen Zug zu entwischen, der ihn mitgenommen hatte, wo immer man auch hinfahren konnte.
Zur Endstation…
In den Tod?
Marek schluckte einige Male, mußte wieder trinken und dachte daran, daß er nicht mehr der Jüngste war. Er hatte überhaupt keine Ahnung, was genau lief. Allein würde er Sinclair nie aus der Falle herausholen können, in der er sicherlich steckte.
Marek erinnerte sich an den Anruf in London. Da hatte John ihn gefragt, ob er allein oder mit Suko kommen sollte.
Marek hatte gemeint, daß einer ausreichte. Dieser Ansicht war er jetzt nicht mehr.
Um John Sinclair aus der Falle holen zu können, brauchte er einen Mitstreiter. Hier war etwas in Gang gesetzt worden, das seine schwachen Kräfte überstieg.
Er goß noch einmal nach. Der scharfe Alkohol zeigte schon Wirkung. Um dagegen anzugehen, holte Marek sich etwas zu essen.
Im Vorratsschrank fand er noch eine Scheibe Speck. Mit einem scharfen Messer säbelte er eine fingerdicke Scheibe ab, kaute langsam, aß auch etwas Brot dazu und trank hin und wieder einen Schluck.
So saß er da, starrte durch das Fenster auf die Straße, wo sich kein Mensch aufhielt und nur eine graue Katze umherstrolchte. Sie sprang plötzlich auf die äußere Fensterbank, preßte ihre Nase gegen die Scheibe und starrte aus grünlich leuchtenden Augen in die Küche, wo Marek soeben das letzte Stück Speck zurechtschnitt, es mit einer Scheibe Brot kaute und auch sein Glas leerte.
Einen Entschluß hatte er gefaßt. Er würde den Fall nicht allein angehen, sondern in London anrufen.
In Petrila selbst hatten die Menschen kein Telefon. Dennoch gab es zwei Apparate. Der eine stand beim
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