0511 - Fenster der Angst
Harriet Bright, die Schwester des Toten. Sie schob die anderen zur Seite, die ihr im Weg standen. »Ich will, daß der Sarg meines Bruders hier und auf der Stelle geöffnet wird.«
»Danke sehr.«
Ihre verweinten Augen schienen in Flammen zu stehen. Es war ein wilder Blick, der uns aus grünblauen Augen traf. Die Frau sah aus wie ein blonder Racheengel. Ihr Kopftuch hatte sich gelöst. Die kurzgeschnittenen Haare bildeten einen Turm aus Wellen und Strähnen.
»Ich danke Ihnen, Miß Bright.«
»Das hat sie aber nicht zu sagen!« rief der Arzt, der auch in der Nähe stand. »Keiner kann es entscheiden.«
Die Worte hatten die Situation wieder angeheizt. Ich bekam den Eindruck, daß die Bewohner aus Rippon es überhaupt nicht wollten, daß der Sarg geöffnet und etwas ans Tageslicht gezerrt wurde. Begraben und vergessen, so lautete die Devise.
»Ich möchte, daß der Sarg zubleibt!« meldete sich Dr. Cisari mit allem Nachdruck.
»Ich ebenfalls!« stand ihm der Pfarrer bei.
Suko schaute sich um. Ich kannte den Blick. Wir waren keine Menschen, die Gewalt liebten, manchmal allerdings blieb einem nichts anderes übrig, als es mit gewissen Einschüchterungsmaßnahmen zu versuchen. Dennoch schüttelte ich den Kopf.
Suko nickte. Er hatte begriffen. Noch wollten wir es auf friedliche Art und Weise versuchen.
Ich wandte mich an den Pfarrer. »Hören Sie, wenn der Totengräber recht hat und Ken Bright tatsächlich scheintot ist, müssen wir den Sarg einfach öffnen. Oder wollen Sie mit dem Druck weiterleben, ein Menschenleben auf dem Gewissen zu haben?«
Der ältere Geistliche wurde still. Er horchte in sich hinein, schaute auf die vier Träger, die wieder eine drohende Haltung eingenommen hatten, und konnte sich nicht entscheiden.
»Auch wenn Sie aus London hergekommen und Polizist sind, so möchte ich Ihnen sagen, daß ich Ihr Vorhaben nicht billigen kann. Sie verlassen sich auf die Aussage eines über achtzigjährigen, meist geistig verwirrten Mannes. Er hat sich alles eingebildet. Wer öffnete schon in bestimmten Abständen einen Sarg, in dem ein Toter liegt? Doch nur ein Mensch, der, mit Verlaub gesagt, nicht mehr richtig im Kopf ist.«
»Oder einer, der Bescheid weiß!« konterte ich. »Tut mir leid, Herr Pfarrer, ich glaube dem Totengräber.«
Da ich hart blieb, sah sich der Geistliche überfordert. Er hob die Schultern und trat zur Seite. »Meinetwegen tun Sie, was Sie nicht lassen können.«
»Aber das geht doch nicht!« rief Dr. Cisari.
»Haben Sie ein schlechtes Gewissen?« fragte Suko gegen. »Oder müßten Sie eines haben?«
»Nein, das habe ich nicht.«
»Dann sträuben Sie sich nicht.«
»Ich finde es nur unverantwortlich.« Suko lächelte. »Das sollten Sie doch lieber uns überlassen. Wenn ein Mensch auf so grausame Art und Weise stirbt, das heißt, in einem Sarg erstickt, sehe ich das als unverantwortlich an. Und nicht der Versuch, ihm zu helfen.«
Dr. Cisari schwieg, während ich bei Sukos Worten auf die vier Träger zugegangen war, die ihre drohenden Haltungen verändert hatten und jetzt sogar zur Seite wichen, damit ich an den Sarg herankam.
Noch jemand stand mir zur Seite. Es war Harriet Bright, die sich von ihren Eltern abgewandt hatte. »Ich werde Ihnen helfen, Mr. Sinclair.«
»Danke.«
»Mein Bruder hat mir von Ihnen und Ihren Kollegen einiges erzählt. Er hat Sie bewundert.«
Ich winkte ab. »Er hat übertrieben.«
»Das glaube ich nicht, jetzt, wo ich gesehen habe, wie Sie sich durchsetzten.«
»Manchmal muß man eben hart sein«, sagte ich.
»Das war mein Bruder hier auch.«
»Wissen Sie eventuell mehr?«
»Kann sein, aber ich war nicht hier.« Sie warf einen Blick über die Schulter zu ihren Eltern. »Ihnen dürfen Sie keinen Vorwurf machen. Sie ersticken fast an ihrem Schmerz.«
»Das kann ich mir vorstellen.«
Mr. und Mrs. Bright hatten sich abgewandt. Sie wollten einfach nicht hinschauen, wenn wir den Sarg öffneten.
Anders die übrigen Trauergäste. Sie waren sogar dichter zusammengerückt, um nur nichts zu verpassen.
Dr. Cisari stand ganz vorn. Sein Gesicht erinnerte mich an eine Maske aus Stein. Nur die Augen lebten. Sie blickten mißtrauisch und böse. Suko hielt mir den Rücken frei, das heißt, er ließ die vier Träger keine Sekunde aus den Augen.
Es würde leicht sein, das Oberteil abzuheben. Der Sarg besaß nur einfache Schnappverschlüsse.
Harriet Bright schaute mich an. Wir standen uns gebückt gegenüber. Im Gesicht der jungen Frau arbeitete es. Sie
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