0511 - Fenster der Angst
der Nähe verschwunden war.
Immer wieder glitt mein Blick über den trostlos wirkenden Friedhof, ohne etwas erkennen zu können, bis ich mich auf die Trauerweide »eingeschossen« hatte und auch einigermaßen zwischen ihren dünnen Zweigen hindurchsehen konnte.
Unter der Weide stand eine Gestalt.
Ein Zuschauer, ein Gast, der wohl nicht gesehen werden wollte und stumm beobachtete.
Ich machte Suko aufmerksam.
»Ja, das steht jemand, John. Kennst du den?«
»Nein, er hat mit dem Gesicht nichts zu tun. Außerdem ist es ein Mann, keine Frau.«
»Willst du hin?«
»Ich weiß nicht. Irgendwie habe ich das Gefühl, als würde er von allein kommen.«
»Mal sehen.«
Der Pfarrer forderte zu einem letzten Gebet für den Toten auf. Wir falteten die Hände und murmelten die Worte des Mannes nach, während ich zur Trauerweide hinschielte und den dort Stehenden nicht aus den Augen ließ.
Das Gebet war beendet, und der Unbekannte hatte sich noch immer nicht vom Fleck gerührt.
War er völlig harmlos? Hatte ich mich getäuscht? Sah ich schon Gespenster?
Die vier Träger bereiteten sich darauf vor, den Sarg in die Tiefe zu lassen. Sie hatten sich schon gebückt und die Seile gepackt, als es die Gestalt unter der Trauerweide nicht länger aushielt.
Nur Suko und ich bekamen mit, wie sie sich in Bewegung setzte und die Zweige der Weide wie einen Vorhang zur Seite schob.
Leider störte der Nebel unsere Sicht. Trotzdem erkannten wir, daß es sich um einen alten Mann handelte.
Mit torkelnden Schritten und schwingenden Armbewegungen verschaffte er sich freie Bahn, lief auf das Grab zu, öffnete den Mund und schrie, so laut er konnte:
»Nein, nicht. Ihr dürft ihn nicht begraben. Ihr dürft es nicht tun!«
Dann stolperte er und brach zusammen.
***
Jeder hatte die Worte gehört, jeder hatte den alten Mann gesehen und jeder hatte auch dessen Zusammenbruch erlebt. Er war über ein Laufbrett gestolpert, lag auf der schmutzigen Unterlage nahe des Grabes, und niemand lief hin, um ihm auf die Beine zu helfen. Die Trauergäste waren einfach zu geschockt.
Anders Suko und ich. Wir sahen noch Glendas erstaunten Blick, hörten auch ihren fragenden Ruf, kümmerten uns nicht um sie, sondern drängten uns durch die Menge dem Ziel entgegen.
Der alte Mann lag noch immer am Boden. Er trug einen dunklen Mantel und klobige Schuhe. Schwerfällig versuchte er, sich aufzurichten, was ihm nicht gelang. Er knickte immer wieder ein. Suko und ich packten zu. Jetzt setzten sich auch die Sargträger in Bewegung, um zu helfen, ich aber stoppte sie.
»Lassen Sie mal, wir machen das!«
Der Mann stand zwischen uns. Sein Gesicht war schmutzig. Mit der Wange war er beim Fall über die Holzplanke gerutscht. Mit offenem Mund holte er Atem, und auf seinem Gesicht breitete sich ein gequälter Ausdruck auf.
Wir wußten nicht, um wen es sich bei ihm handelte. Aus dem Hintergrund aber bekamen wir die Erklärung. Eine rauhe Männerstimme sagte: »Das ist Perneil Davies, der alte Totengräber…«
»Was will er denn hier?«
»Weiß ich auch nicht.«
»Der ist doch nicht richtig im Kopf seit damals, wo das mit seiner Frau passierte.«
»Ja, meine ich auch.«
»Man soll ihn wegbringen.«
Die Kommentare gefielen mir nicht. Ich glaubte auch nicht daran, daß Perneil Davies nicht richtig im Kopf war. Ich wollte mich gern mit ihm unterhalten.
Er hatte sich wieder gefangen. Da er von Suko und mir gehalten wurde, konnte er nur den Kopf vorstrecken. Nickend wies er auf das offene Grab. »Ihr dürft ihn nicht begraben. Nein, das könnt ihr nicht machen. Er ist nicht tot…«
Der Pfarrer mischte sich ein. »Hör auf, Pernell. Rede keinen Unsinn. Du kannst die Trauerfeier nicht stören. Wie kommst du überhaupt dazu, so etwas zu sagen?«
»Ich weiß es, Pfarrer. Ich weiß, daß Ken Bright nicht tot ist. Das ist wie damals. Mit Julia Ashley hat alles begonnen. Über Rippon liegt ein Fluch. Ich habe es immer gesagt, und Julia ist zurückgekehrt. Ich habe heute ihr Gesicht gesehen. Sie… sie war da. Übergroß sah ich sie, und sie weinte blutige Tränen.«
Der alte Totengräber war von den Menschen verstanden worden.
Keiner ging auf seine Bemerkungen direkt ein ehester Bright löste sich vom Rand des Grabs, er kam auf uns zu, schaute zuerst den Totengräber an, danach uns. »Sie sind Kollegen meines Sohnes, nicht?«
»Ja.«
»Bitte, tun Sie mir einen Gefallen. Schaffen Sie ihn weg. Ich kann es nicht mehr hören, und meine Frau auch nicht.«
»Meinen Sie denn,
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