0513 - Die Hexenfalle
Unwillkürlich berührte er ihren Körper jetzt doch. Die Haut fühlte sich kühl an. Nun gut, Nicole lag auf der Decke und nicht darunter, vielleicht lag es daran…
Allerdings reagierte sie weder auf leichtes Streicheln noch auf heftiges Rütteln. Und ihr Puls war auch nicht mehr zu spüren!
»Nicole!« stieß Zamorra erschrocken hervor. Er drehte sie um, gab ihr leichte Klapse auf die Wangen - was so falsch wie sinnlos war. Abermals versuchte er an verschiedenen Stellen vergeblich ihren Puls zu finden, lauschte nach ihrem Herzschlag, schüttelte sie heftig durch - nichts.
Sie mußte schon seit ein paar Stunden tot sein.
***
Da saß er nun neben ihr und konnte es nicht glauben. Sie war neben ihm gestorben, ohne daß er es gemerkt hatte? Einfach so? Das war unmöglich. Es gab keinen Grund dafür. Sie war gesund, körperlich fit — und gehörte wie er zu jenem ganz kleinen Kreis von Auserwählten, die ab einem bestimmten Zeitpunkt weder altern noch eines natürlichen Todes sterben konnten. Sie hatte wie Zamorra vom Wasser der Quelle des Lebens getrunken. Nur durch Gewalt konnten sie beide umkommen - durch Mord, oder durch einen Unfall. Keinesfalls aber durch Krankheit oder Alter. Beides gab es für sie nicht mehr, einmal abgesehen von Kleinigkeiten wie Schnupfen, den der Körper zuweilen braucht, um seine Abwehrkräfte mal wieder per »Probealarm« zu testen. [4]
Es war also unmöglich, was er hier erlebte. Vermutlich handelte es sich wieder einmal um eine dieser seltsamen Visionen, die von Mal zu Mal schlimmer wurden und die sich diesmal als besonders hartnäckig und dauerhaft zeigte. Zamorra zwickte sich kräftig in den Oberschenkel, genau an einem seiner blauen Flecken, damit es auch wirklich richtig weh tat und er dadurch garantiert aus der Trugbild-Erscheinung geholt wurde.
Nur ließ das Trugbild sich davon nicht beirren.
»Na schön«, murmelte er, stand auf und kleidete sich an. Zwischendurch betätigte er die Sprechanlage. In jedem bewohnten Raum des Châteaus und selbst in den labyrinthischen Kellergewölben bis hin zur Kammer mit den Regenbogenblumen gab es diese Geräte. »Nicole? Wo steckst du? Kannst du bitte mal zu mir kommen?«
Dem Trugbild auf dem Bett schenkte er keine Beachtung mehr. In stoischer Ruhe lag die Gestalt da und verdrängte weiterhin die Realität.
Plötzlich kam das ersehnte Antwortknacken. Aber es war Raffael, der sich meldete. »Monsieur? Ist Mademoiselle denn nicht bei Ihnen?«
»Natürlich nicht. Sagen Sie bloß, sie hat das Château verlassen und…«
»Sie hat es nicht verlassen, Monsieur, das weiß ich mit absoluter Sicherheit. Dazu brauche ich nicht einmal William zu fragen, denn keine der Außentüren ist heute benutzt worden und auch die Treppe zu den Regenbogenblumen nicht.«
»Wieso sind Sie dessen so sicher?«
Raffael hüstelte. »Ach, Monsieur, lassen Sie einem älten Mann doch wenigstens eines seiner kleinen Geheimnisse. Ich schwöre Ihnen bei allem, was mir heilig ist - notfalls bei meiner Stellung in diesem Hause - daß Mademoiselle Duval Château Montagne nicht verlassen hat.«
»Schon gut, Raffael«, brummte Zamorra. Ihm war zwar absolut unklar, wieso der alte Mann dermaßen sicher sein konnte. Aber Raffael Bois war in seinem ganzen Leben noch nie leichtfertig mit Schwüren umgegangen, und erst recht nicht, wenn er bei seinem Job schwor…
»Aber Sie wissen auch nicht, wo sie gerade steckt, Raffael?«
»Natürlich. Monsieur. Sie ist doch bei Ihnen.«
Unwillkürlich sah Zamorra wieder zum Bett, wo die Erscheinung immer noch in ihrer Ruheposition verharrte. Er entsann sich, daß er immer der einzige war, der diese Bilder sehen konnte, daß sie ja nicht einmal durch telepathische Überwachung zu erfassen waren. »Würden Sie dann bitte einmal zu mir kommen, Raffael?«
»In Ihren Schlafraum? Selbstverständlich, Monsieur. Ich komme sofort.«
Er mußte ganz in der Nähe gewesen sein, denn es verging nicht einmal eine Minute, bis er an die direkt zum Flur führende zweite Tür klopfte. Zamorra öffnete. »Dann überzeugen Sie sich doch bitte mal davon, daß Nicole nicht hier ist!«
Raffael sah ihn verwundert an, sehr verwundert, und schüttelte sehr langsam sein greises Haupt, um mit ausgestrecktem Arm aufs Bett zu deuten.
»Aber dort liegt sie doch, Monsieur!« sagte Raffael vorwurfsvoll.
Sekundenlang verkrampfte sich in Zamorra etwas. »Wie - wieso können Sie sie sehen?« stieß er entgeistert hervor.
»Konnte ich das je einmal nicht, Monsieur?«
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