0514 - Der Schädeltempel
zurückzukehren. Aber hinter ihr war nichts. Nur die endlose Wüstenlandschaft unter einer glühenden Mittagssonne.
Ein Traum? Eine Halluzination? Wieder einer dieser hinterhältigen Zaubertricks? Gerade eben war sie doch noch vor ihrem Elternhaus gewesen! Es war dunkel und kühl gewesen. Jetzt aber brach ihr unter ihrer Steppjacke der Schweiß aus.
Das Mädchen, das im heißen Sand kauerte, wurde mit der Gluthitze besser fertig. Kein Wunder, trug es doch nicht mehr als einen blauen Tanga am Leib. Jeanettes Gesicht verdüsterte sich. Erst ihre eigene erzwungene Zurschaustellung, und jetzt diese kaum bekleidete Amazone - fast kam es ihr vor, als sei sie in ein Narrenhaus geraten.
Hinter dem Mädchen mit dem langen braunen Haar ragte ein riesiger, dunkler Schädel aus dem Sand empor. Eine verblüffend exakte Nachbildung, so groß wie ein Haus. Unwillkürlich machte Jeanette ein paar Schritte darauf zu, senkte dann plötzlich den Blick und erkannte erleichtert ihre Spuren im Sand. Das bedeutete, daß sie die Stelle jederzeit wiederfinden konnte, an der sie hier in dieser Ödlandschaft aufgetaucht war.
Also tatsächlich keine Illusion? Oder wurden ihr auch diese Spuren nur vorgegaukelt? War dieser Verrückte mit seinem Flugungeheuer und dem zwergenhaften »Großonkel« wieder in der Nähe und trieb seinen Schabernack mit ihr?
Wenn nicht - was geschah hier? Was war dies für ein Land, und wie war sie hierher geraten? Sie erinnerte sich an die Geschichten, die sich um den Professor vom Château rankten, daß er schon Welten besucht hatte, die sich andere Menschen nicht einmal in ihrer wildesten Fantasie vorstellen konnten, und daß er sogar schon in der Hölle gewesen sei - in einer Hölle, die Jeanette nur als einen Mythos ansah, als etwas Imaginäres, das sich die Menschen in den Anfängen des Christentums ausgedacht hatten. Und Zamorras fremde Welten… was war daran Wirklichkeit, was waren Thekengeschichten? Vor allem, wie sollten seine Reisen Zustandekommen? Das nächste Sonnensystem war über vier Lichtjahre entfernt, und ob es dort bewohnbare Planeten gab, stand buchstäblich in den Sternen - aber selbst wenn man ein Raumschiff dorthin schicken könnte, würde es hier und zurück sicher mehr als fünfzig Jahre unterwegs sein. Ganz abgesehen davon, daß es technisch undurchführbar war; bislang hatte es ja nicht einmal den bemannten Flug zum relativ nahen Mars gegeben.
Aber das hier - das war auf keinen Fall Frankreich, niemals das Loire-Tal. Eher die Sahara, oder Gobi, oder die Wüstenei von Nevada und New Mexico. Rätselhaft blieb, wie Jeanette dorthin geraten sein sollte. Doch eine Halluzination?
Und wie kam dieses fast nackte Mädchen hierher?
»Können Sie mich verstehen?« fragte Jeanette. »Wer sind Sie? Wie kommen Sie hierher?«
Die Braunhaarige schien über diese Initiative verwirrt. Sie legte den Kopf schräg. »Natürlich kann ich dich verstehen. Warum stellst du solche Fragen? Ich bin die Hoffende.«
»Aber das ist doch kein Name!« entfuhr es Jeanette. »Wie heißen Sie? Ich bin Jeanette Brancard.«
»Ein Name? Wozu brauche ich einen Namen, wenn ich die Hoffende bin?«
Jeanette faßte sich an den Kopf. »Auch ’ne Logik, aber keine, die ich verstehe…« Sie öffnete ihre Jacke, weil es ihr darin zu heiß war. In der Ferne sah sie Staubschleier, die der Wind über das Land trieb, aber hier war es windstill. Es gab keine Kühlung und keinen Schatten.
»Die Hoffende«, wiederholte sie und erinnerte sich an das, was der Bärtige gesagt hatte, als Zamorra ihn nach seinem Namen fragte. Er sei ein Suchender, hatte er geantwortet. »Kennen Sie den Sucher?« schoß sie ihre nächste Frage ab.
Durch das Mädchen ging ein Ruck. »Du bist ihm begegnet? Hat er dich geschickt?«
»Ein großer Mann mit grauem Bart und langem grauen Haar«, beschrieb ihn Jeanette. »Seltsame, etwas altertümliche Kleidung, ein großer Hut, ein sehr großes Messer, hohe Stiefel, ein bißchen verrückt…«
»Du bist ihm wirklich begegnet. Sag, hat er dich geschickt? Bist du der Richtige?«
»Der Richtige?« Jeanette verdrehte die Augen. »Das scheint hier tatsächlich so etwas wie ein überdimensionales Kasperl-Theater zu sein. Wenn schon, dann bin ich die Richtige. Oder siehst du nicht, daß ich eine Frau bin?«
»Du bist eine Fragende«, sagte die Hoffende.
Jeanette faßte sich mit beiden Händen an die Schläfen und drehte sich einmal im Kreis, ging dabei leicht in die Knie und beugte sich vor. »Ja, natürlich
Weitere Kostenlose Bücher