0514 - Der Schädeltempel
konnte nichts dagegen tun. Der Verantwortliche war ungreifbar und unangreifbar. Zamorra mußte versuchen, sich in sein Denken hineinzuversetzen. Aber wie sollte ihm das gelingen, wenn kein Denkschema zu erkennen war?
Der Sucher…
Wonach suchte er? Und warum ließ er dabei Menschen verschwinden? Oder war das vielleicht gar nicht seine Absicht? War er vielleicht nur eine Art Magie-Katalysator, der allein durch seine Anwesenheit diese Phänomene auslöste?
Daran konnte Zamorra nicht glauben. Der Sucher hatte selbst aktiv Magie eingesetzt. Daß diese nicht schwarz war, war Zamorra momentan kaum ein Trost.
Zamorra wanderte durch den langen Korridor, stieg die Treppe hinauf und warf sich in seinem Arbeitszimmer in einen bequemen Ledersessel. Er schielte zum Computerterminal hinüber. Würde es etwas bringen, nach vergleichbaren Erscheinungen zu suchen? Aber Zamorra konnte sich nicht erinnern, jemals etwas in dieser Art erlebt zu haben. Da würde wohl auch der Speichersuchlauf ins Leere gehen.
Wie ein Schatten tauchte der alte Raffael in der Tür auf, der gute Geist des Hauses, wie sie ihn seit Ewigkeiten nannten. »Monsieur, kann ich Ihnen helfen?«
Zamorra wandte den Kopf. »Sie haben zugeschaut?«
»Es ist mir bedauerlicherweise nicht entgangen, Monsieur. Es ist unheimlich, wenn Sie mir diese Bemerkung erlauben.«
»Ich erlaube Ihnen doch alles«, erwiderte Zamorra müde. »Wenn ich nur einen Sinn in all diesen Dingen sehen könnte. Einen gemeinsamen Nenner. Setzen Sie sich. Hören Sie mir zu und sagen Sie mir dann, was Sie von der ganzen Sache halten.«
Die Sorge um Nicole und die anderen brannte in ihm. Aber er zwang sich zur Ruhe. Er mußte sich die Zeit zum Nachdenken nehmen. Der Sucher hatte ihn in Zugzwang gebracht und setzte ihn unter Druck. Zamorra mußte diesen Druck irgendwie von sich ableiten.
Er schilderte Raffael, was er selbst wußte. Der alte Mann hörte ruhig zu. Schließlich schloß er die Augen und hob zögernd die Hand. Zamorra sagte nichts. Er drängte nicht, wartete ab. Raffael war nur am Rande beteiligt. Er konnte freier nachdenken, ohne Druck und Zugzwang.
»Er arbeitet mit Halluzinationen«, sagte Raffael endlich. »Nein, eher mit Illusionen. Deshalb ist nichts greifbar. Er selbst ist vermutlich auch nur eine Illusion. Eine Projektion vielleicht.«
»Weiter«, bat Zamorra.
»Eine Projektion, die von dort kommt, wohin die Menschen verschwunden sind«, fuhr Raffael fort. »Der Sucher befindet sich selbst dort. Er hat sie alle zu sich geholt. Aber er ist nicht zufrieden. Er sucht immer noch. Er hat noch nicht gefunden, was er braucht - nein, wen er braucht. Das Amulett scheidet dabei als Qualifizierungsfaktor aus. Es benutzen zu können, reicht nicht. Vielleicht schon eher der Dhyarra-Kristall.«
»In dem Fall müßte er mit Nicole jetzt die richtige Person haben«, sagte Zamorra unbehaglich.
»Aber der Kristall ist noch hier. Mademoiselle Duval allein, ohne den Dhyarra-Kristall, wird ihm nicht viel nützen. Ich kann mir auch nicht vorstellen, daß er Mademoiselle Duval wirklich will, wenn er sich so lange mit Ihnen befaßt hat, Monsieur. Er hat mit Ihnen geredet, er hat sich speziell Ihnen gewidmet, ist hierher ins Château gekommen. Das muß einen Grund haben. Er will Sie, Monsieur, aber Sie sind ihm noch nicht perfekt genug. Der Sucher bemüht sich, Sie aus der Reserve zu locken. Er gibt Ihnen Rätsel auf. Er will Sie geistig an einen bestimmten Punkt führen. Er sucht jemanden mit einem ganz bestimmten Verständnis, jemanden, der anders denkt als der Rest der Menschheit.«
»Aber warum hat er dann Leute wie Lafitte und Goadec verschwinden lassen? Die können ihm so doch ganz bestimmt nicht weiterhelfen.«
»Aber auf andere Weise. Ich sagte schon, Monsieur: Er will Sie aus der Reserve locken. Er hat Sie auf eine Denkspur gesetzt und prüft Sie nun. Wenn Sie zu der richtigen Erkenntnis gelangen, sind Sie derjenige, den er sucht. Wenn nicht… ich weiß nicht, was dann geschieht. Aber immerhin scheint dieser Sucher sehr konkrete Vorstellungen zu haben. Er hat Sie zielbewußt ausgewählt…«
»Vielleicht hat er mich aber auch nur in Mostaches Lokal sondiert und sein Vorgehen erst danach speziell auf mich abgestimmt«, gab Zamorra zu bedenken.
»Es ist denkbar, sogar sehr wahrscheinlich, Monsieur«, revidierte Raffael seine ursprüngliche Meinung. »Der kritische Punkt jedoch besteht für mich darin, daß der Sucher in unserer Welt nur als Illusion existiert und seinerseits
Weitere Kostenlose Bücher