0515 - Schreie aus dem Werwolf-Brunnen
hochgebocktes Lager aus Fellen und Decken. Der süßliche Opiumgeruch fiel mir sofort unangenehm auf.
Li verneigte sich vor ihm, sprach einige Worte und bekam von Ho Chan Antwort. Der alte Mann redete mit einer dünnen Stimme. Ich hatte nichts verstanden, aber Li verbeugte sich und ging davon. Er ließ uns allein.
Das Licht der Räucherkerzen reichte aus, um sein Gesicht erkennen zu lassen. Ja, dieser Mann war alt. Achtzig Jahre hatte er mindestens auf dem Buckel. Sein Gesicht schien aus mehreren Hautfetzen zusammengesetzt worden zu sein, die Augen waren nur schmale Sicheln, der Mund war kaum zu erkennen. Ho Chan hatte den Kopf erhoben und schaute mich aus seiner sitzenden Haltung heraus an.
»Bitte, du mußt dich setzen.«
»Danke.«
Ich fand ein schmales Sitzkissen und ließ mich in kniender Haltung darauf nieder. Das Sitzkissen, stand noch auf dem Teppich, so daß nicht zuviel Kälte von unten her hochzog.
»Du bist also John Sinclair«, sagte er.
»In der Tat. Haben Sie mich angerufen?«
»Ich mußte es.«
»Dann befindet sich auch Suko in Ihrer Gewalt?«
»So ist es. Wir mußten ihn herholen, es gab keine andere Möglichkeit für uns.«
»Er ist freiwillig gekommen und…«
Der alte Ho Chan schüttelte den Kopf, so daß ich nicht mehr weitersprach.
»Du kennst die Verhältnisse hier nicht, John Sinclair, sonst würdest du anders reden.«
»Bitte«, sagte ich und streckte den rechten Arm vor. »Dann klären Sie mich auf.«
Er nickte. »Das will ich gern tun. Deshalb habe ich dich auch herbringen lassen.« Auch jetzt noch, im Exil, besaß dieser Ho Chan etwas Würdevolles. Er war eben die geborene Führernatur.
Und ich hörte genau zu, was er mir zu berichten hatte. Es war eine interessante und auch unheimliche Geschichte…
***
Sie hatten Suko zu essen und zu trinken gegeben. Reis, Tee, etwas Schweinefleisch, mit einer pikantsüßen Soße gewürzt. Daß sie Suko so behandelten und ihm nicht einmal die Waffen abgenommen hatten, ließ darauf schließen, daß sie ihn noch brauchen würden.
Unter Bewachung hatte Suko gegessen, getrunken und auch Fragen gestellt, auf die man ihm keine Antwort gab. Die Mündung der Maschinenpistole war stets auf ihn gerichtet. Mochte der Teufel wissen, wo sie diese Waffe herhatten.
Er hatte sich auch ausruhen und schlafen können. Eingesperrt in einen ausbruchsicheren Raum, in dem es lausig kalt war. Dort hatte Suko den Rest der Nacht verbracht und auch viele Stunden des nachfolgenden Tages. Und er hatte Zeit genug gehabt, über sein Schicksal nachzudenken, das er nicht einmal als so schlimm empfand. Nur die Prügel würde er seinen Landsleuten nicht so rasch verzeihen.
Irgendwann waren sie dann wieder erschienen, natürlich mit der Maschinenpistole.
»Die braucht ihr nicht, ich werde nicht flüchten.«
»Wir haben ihm Bescheid gesagt«, wurde Suko erklärt.
»Wem?«
»Deinem Freund.«
»Und?«
»Er wird herkommen, wenn er vernünftig ist und ihm etwas an dir liegt.«
»Das glaube ich auch.« Suko lächelte. »Werdet ihr ihn auch so nett empfangen wie mich?«
»Das wissen wir nicht.«
»Wie schön! Und was geschieht mit mir?«
»Du wirst noch etwas essen und trinken. Dann werden wir dich an deinen Bestimmungsort bringen.«
»Hört sich spannend an.«
Suko bekam keine Antwort, dafür einfachen Reis und Tee. »Das ist auch unser Mahl«, wurde ihm erklärt.
»Ich weiß es zu schätzen.«
Zehn Minuten später mußte Suko sich erheben. Er rechnete damit, innerhalb der Baracke zu bleiben, das erwies sich als falsch, denn seine Bewacher öffneten eine sich im Boden abzeichnende Falltür, und Suko mußte durch die Luke klettern.
Es war, eine altersschwache, schon morsch aussehende Holztreppe, die in eine muffige Tiefe führte und in einem Stollen endete.
Er war gerade so hoch, daß ein Mensch aufrecht gehen konnte.
Mehrere Chinesen blieben hinter Suko. Natürlich auch der Mann mit der Maschinenpistole.
Suko wunderte sich über die Länge des Stollens. Er führte schnurgerade in ein unbekanntes Gebiet. Wenn ihn nicht alles täuschte, mußten sie den Ort Fillingrow unterqueren.
Auf die Uhr hatte Suko nicht gesehen, aber sie erreichten schließlich ihr unter der Erde liegendes Ziel.
Die Chinesen hatten nur eine Taschenlampe mitgenommen. Suko spürte den Druck der Mündung im Kreuz, er hörte ein Zischen, eine Flamme flackerte auf und bekam auch genügend Nahrung, weil sich in der Tiefe noch Sauerstoff in der Luft befand.
Die Flamme nahm an Größe zu.
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