0518 - Der Vampir von Versailles
ihren Oberkörper schlang, wandte sich kurz zum Fenster um und machte eine rasche Handbewegung. Die Fensterflügel schlossen sich von selbst. »Verzeiht, Gnädigste«, sagte der Fremde. »Ich vergaß, wie leicht Geschöpfe Eurer Art frieren.«
»Wer - wer seid Ihr?« stieß Rebecca hervor. Sie konnte nicht weiter zurückweichen; hinter ihr war die Zimmerwand. Sie tastete mit den Händen an der Stoffbespannung entlang und versuchte, sich seitwärts in Richtung Tür zu schieben. Das Vernünftigste wäre es, laut um Hilfe zu schreien, dachte sie. Aber aus irgendeinem unbegreiflichen Grund war sie dazu nicht in der Lage.
Der fremde Mann in ihrem Zimmer neigte leicht den Kopf. »Verzeiht, Mademoiselle. Ich war unhöflich und vergaß, mich vorzustellen. Ich bin Nicolas le Roumain, zu Euren Diensten.«
Er stand jetzt ganz dicht vor ihr, so daß sie seinen Atem spüren - könnte ! Aber es war, als atme er überhaupt nicht. Sie verstand sich selbst nicht; wieso konnte sie in einer solchen Situation auf solche Kleinigkeiten achten? Was geschah mit ihr? Warum schrie sie nicht, warum floh sie nicht zur Tür hinaus?
Seine Hand berührte ihre Wange.
Rebecca erschauderte. Glühendheiß und eiskalt zugleich floß es durch ihren Körper. Sie schloß die Augen.
Die Hand bog ihren Kopf leicht zur Seite, war dabei seltsam kühl und fühlte sich an wie Pergeament. Augenblicke später spürte Rebecca einen winzigen Schmerz an ihrem Hals.
***
Der flackernde Lichtschein entpuppte sich als Kerzenflammen hinter dem Fenster einer Herberge am Wegesrand. Nach einigem Klopfen ließ man sie auch wahrhaftig ein, obwohl man ihnen sehr mißtrauische Blicke zuwarf. Vor allem der Gnom schien den Wirtsleuten nicht so ganz geheuer zu sein. Aber auch Zamorra in der belgischen Uniformhose aus dem 1. Weltkrieg und Nicole in ihren Stofffetzen wirkten alles andere als vertrauenerweckend. Aber Cristofero war rasch mit einer Erklärung zur Hand. »Wir fielen unter die Räuber«, behauptete er. »Die Straßen sind ja recht unsicher in diesen Zeiten. Sei Er so gut, einen Boten nach Paris zu schicken. Man mag uns eine Equipage senden, auf daß wir standesgemäß zu Hofe gebracht werden können -ach ja, und standesgemäße Gewandung für meine Dienerschaft.« Als Nicole aufbrausen wollte, hielt Zamorra sie fest. »Spiel mit«, flüsterte er ihr zu. »Es ist ja nicht für lange. Und vermutlich hilft es uns.«
Derweil hatte Don Cristofero eine Goldmünze aus seiner Gürteltasche geholt und auf den Tisch gelegt. »Dies mag Seine Mühen vorab entlohnen. Sollten Seine Bemühungen höhere Unkosten verursachen, wird Er später ausreichend entschädigt. Ich bin Don Cristofero Fuego del Zamorra y Montego, Berater Seiner Majestät, des vierzehnten Louis.«
Der Anblick der Münze, die Cristofero noch aus der Zeit vor seiner unfreiwilligen Reise in die Zukunft und sogar durch die Französische Revolution bis hierher gerettet halte, beflügelte die Tatkraft der Wirtsleute. Sie schickten tatsächlich noch einen Knecht in die Nacht hinaus.
»Paris ist weniger als ein Dutzend Meilen von hier entfernt«, erklärte Cristofero seinen Begleitern leise. »Ich kenne mich hier aus. Ich kehrte einmal mit Seiner Majestät hier ein, als ich noch etwas… hm… jünger war und diesen wunderschönen Prachtbart noch nicht trug. Deshalb erkennen sie mich nun nicht wieder.« Bei dem Wort ›jünger‹ strich er sich bezeichnend über seinen voluminösen Bauch. »Mit etwas Glück werden wir noch in dieser Nacht in standesgemäßen Gemächern ruhen.«
Das Standesgemäße war Zamorra und Nicole eher unwichtig. Hauptsache, sie konnten sich endlich sattessen, und die Betten waren halbwegs wanzenfrei. Selbst Nicole kam trotz ihrer abgrundtiefen Abneigung gegen das Gehabe des Granden allmählich zu der Überzeugung, daß es besser sei, ihn vorerst gewähren zu lassen. Über alles andere konnte man sich später aufregen.
»Es sieht so aus, als sei das Zeitpendel jetzt endlich zur Ruhe gekommen«, sagte Zamorra später, als die Wirtin eine Karaffe Wein und ein paar Gläser auf den Tisch gestellt hatte. Auch der Gnom war längst wieder wach, fühlte sich aber äußerst schwach und hielt sich vom Wein fern. Es war ihm anzusehen, wie gern er jetzt ein paar Süßigkeiten genossen hätte, aber angesichts seines gestrengen Herrn wagte er einen solchen Wunsch nicht zu äußern. Und der Honig und die Schokolade, die er aus dem Château Montagne mit in die Vergangenheit genommen hatte, waren im
Weitere Kostenlose Bücher