0519 - Schatten des Grauens
kümmern. Im Moment habe ich an Sie beide keine Frage mehr.«
Francine nickte. »Das tue ich.«
Als sie auf ihre Freundin zuging, lief Robin ihr nach. »Moment, eine Frage habe ich doch noch. Verzeihen Sie mir die schreckliche Neugierde, aber das ist wohl eine Berufskrankheit, die ich beim besten Willen nicht mehr los werde. Darf ich den Grund für den Streit erfahren? Immerhin muß schon etwas Handfestes vorgefallen sein, wenn man sich bei einer Geburtstagsfeier in die Haare bekommt, nicht wahr?«
»Das ist eine ganz persönliche Sache«, erwiderte Francine unbehaglich und steif.
»Darf ich es trotzdem erfahren? Ging der Streit vielleicht von dem Toten aus?«
Sie schüttelte den Kopf. Die verdammten Fotos. »Das geht Sie nichts an«, sagte sie.
Schulterzuckend stieg Robin in einen dunklen Citroën XM und fuhr davon. Francine sah ihm nach. Mordkommission Lyon, dachte sie. Inspektor Pierre Robin. Jemand hat Claude ermordet. Und mein Schatten war unter seinem Auto. Verliere ich den Verstand? Oder träume ich das alles nur?
***
Es sah alles noch annähernd so aus, wie Francine es aus der vergangenen Nacht in Erinnerung hatte - nur vielleicht noch etwas unordentlicher. Überall standen benutzte Gläser, leere Flaschen, Chipstüten, Zigarettenschachteln. Obgleich Arlette während ihrer Abwesenheit sämtliche Fenster aufgerissen hatte und es eiskalt in der Wohnung geworden war, hing der kalte Rauch noch in Sesseln, Teppichen und Gardinen.
Immerhin - die Gäste waren alle fort.
»Wenn du etwas magst, greif zu«, sagte Arlette müde. »Es ist genug übriggeblieben. Nimm dir auch was mit nach Hause, wenn du fährst. Ich kann doch nicht alles wegessen.«
Das Büfett war sehr reichhaltig ausgestattet gewesen. Fast die Hälfte war noch unberührt. Dafür schienen die Getränkevorräte unter rapider Schwindsucht gelitten zu haben. Francine Belo fand noch ein sauberes Glas im Schrank, schenkte sich Mineralwasser ein und kehrte zu Arlette zurück. »Ich kann es nicht glauben, Fran«, sagte sie. »Vor ein paar Stunden lebte er noch. Da habe ich doch noch mit ihm gesprochen. Gerade mal zwölf, dreizehn Stunden ist es her. Und jetzt… ach, zum Teufel! Wer kann nur so etwas getan haben? Der Chefinspektor sagte, jemand habe die Bremsleitungen durchgeschnitten. Das ist Mord, Fran. Mord, hörst du?«
Francine nickte. Mord. Und mein Schatten kroch unter sein Auto. »Chefinspektor? Bei mir hat er den ›Chef‹ weggelassen.«
»Einer seiner Leute redete ihn so an. Ist doch unwichtig. Claude ist tot. Wer kann so etwas nur tun?«
»Mal ganz im Ernst unter uns Klosterschwestern«, sagte Francine. »Ich könnte dir aus dem Stegreif ein halbes Hundert Kandidaten nennen. Du brauchst bloß einen Blick in seine Kundenkartei zu werfen. Und gestern mußte er ja auch schon wieder…«
»Bitte«, sagte Arlette leise. »Laß es. Es hat ihnen doch Spaß gemacht.«
»Ja. Mir hat es auch Spaß gemacht -damals«, fauchte Francine. »Bis ich mich dann in dieser Zeitung wiederfand. Wenn er wenigstens vorher gefragt hätte!«
Sie wandte sich ab und trat ans offene Fenster. Sie glaubte das rasende Klicken des Kameraverschlusses wieder zu hören. Die stroboskopschnellen Blitze. Das heiße Scheinwerferlicht, das den Raum so sehr aufheizte, daß man schließlich heilfroh war, keinen Faden am Leib zu tragen. Arlette hatte sich nackt fotografieren lassen. Vom Bruder ihrer Freundin, na und? Ein paar Dutzend wunderschöne, äußert erotische Fotos. Mit den schönsten hatten sie ihren Freund überraschen wollen. Er hatte sich auch irrsinnig gefreut.
Und ein halbes Jahr später hatte er ihr diese Zeitung vor die Füße geschleudert.
Claude Apart hatte Kopien der Fotos an ein Sexmagazin verkauft. Daß Jean diese Hefte las, hatte Francine ihm nie vorgeworfen. Sie schaute sich ja auch gern Bilder hübscher Jungs an. Aber als sie sich selbst in einer solchen Zeitung wiederfand, war sie erschüttert. Jean hatte ihr nichts geglaubt. Jean war fort. Für immer. »Nun stell dich nicht so kleinmädchenhaft an«, hatte Claude sie angeschnauzt. »Ob du dich für deinen Freund knipsen läßt, ob ich dich nackt sehe, ob du am FKK-Strand herumläufst - nackt ist nackt! Wo ist der Unterschied?«
»Der Unterschied heißt Vertrauen!« schrie sie, und sie hätte ihn umbringen können. Er hatte ihr den Freund genommen. Er schrieb ihr einen Scheck aus. 20 000 Francs. »Dein Honorar für die Bilder.« Sie hatte den Scheck zerrissen. Ein Rechtsanwalt hatte versucht, den
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