052 - Die Leichenkammer des Dr. Sarde
auf dem Fußboden gesehen. Ich bin beinahe gestolpert.«
Sie schüttelte den Kopf. »Besonders bequem hast du sicher nicht geschlafen,
wie?«, fragte sie, als sie sein müdes Gesicht sah.
»Ja, das kann man wohl sagen ...« Er fuhr mit dem Trockenrasierer kurz über
sein stoppeliges Kinn. »Ich habe nicht einmal Mireille fortgehen sehen. Ich
weiß eigentlich überhaupt nicht mehr, was in der vergangenen Nacht war.«
»Jedenfalls hatten wir scheinbar alle anständig einen in der Krone«,
antwortete Françoise. Sie zog sich wieder an. Nur mit BH und Slip bekleidet,
stand sie vor dem hohen Spiegel und bürstete ihre Haare. »Sie ist vielleicht
mit Maurice Gudeau, deinem Partner, abgezogen, wer weiß.«
Jean Ecole wusste es besser, denn er war mit der faszinierenden Mireille
die ganze Nacht zusammen. Sie hatten später noch einmal gemeinsam an der
Hausbar getrunken und fast ausschließlich scharfe Sachen.
Was danach war, wusste er nicht mehr. Eines nur schien sicher zu sein:
Mireille war zum Glück vor Françoise aufgewacht und hatte sich heimlich
verdrückt.
Er wollte sie wiedersehen und wusste praktisch nicht mehr von ihr als ihren
Namen. Françoise musste hier besser orientiert sein.
Jean Ecole lachte plötzlich leise, als würde ihm eine besonders heitere
Sache einfallen. »Sag, Françoise«, begann er. »Wo hast du Mireille eigentlich
aufgegabelt? Kennst du sie schon länger?«
»Ich war vor kurzem in einem kleinen Nachtclub in der Rue de Rivoli. Die
Bude haben sie neu eröffnet. Sieht recht nett aus. Interessante Atmosphäre.«
Sie berichtete stockend, während sie ihre Haare ordnete. »Musst du dir bei
Gelegenheit einmal ansehen. Mireille sang dort ein paar Chansons. Sie hat eine
recht gute Stimme.«
»Warum hast du das nicht gestern Abend gesagt? Sie hätte uns ein
Abschiedslied singen können.« Er lachte über den Witz, der ihm unverhofft so
gut gelungen war.
Françoise sah ihn an. »Du bist bei bester Stimmung«, meinte sie erstaunt.
»Ist das ein Wunder? Nach einer eiskalten Dusche fühle ich mich immer
aufgekratzt.«
Er grinste und verschwand aus dem Bad. Sie folgte ihm, ihr Kleid über den
Arm gehängt.
»Wie heißt der Nightclub, Cheri?«, fragte er, während er sein Jackett vom
Sessel nahm, über den er es in der vergangenen Nacht gehängt hatte.
»Noir Rivoli. Du freust dich sicher sehr, Mireille wiederzusehen, wie?«,
fragte sie spitzbübisch lächelnd. Sie sah charmant aus. Aber Mireille war sie
unterlegen.
Er griff wortlos nach seiner Jacke und warf dabei einen raschen Blick auf
seine Uhr. »Du liebe Zeit«, entfuhr es ihm. »Gleich zehn.« Er wollte das
Jackett überziehen, als ihm auffiel, dass es voller Staub war.
»Mach es mir bitte sauber. Ich stürze rasch eine Tasse Kaffee hinunter. Zum
Frühstücken komme ich doch nicht mehr.« Es war enorm viel zu tun.
Er entschloss sich, erst mal im Büro anzurufen, ehe er sich selbst auf den
Weg machte.
Außer der Büroangestellten, die den gesamten Schreibkram erledigte und auch
gleichzeitig als Beraterin fungierte, wenn Angehörige von Verstorbenen kamen,
um die Formalitäten zu erledigen, war niemand da.
Keine Spur von Maurice Gudeau!
»Quartalssäufer«, konnte Ecole sich nicht verkneifen zu sagen, als er den
Hörer auflegte. Er rief in der Wohnung Gudeaus an. Das Telefon rasselte mindestens
zehnmal.
Niemand hob ab.
»Zu Hause ist er auch nicht.« Wütend kam er auf Françoise zu, die seine
Jacke ausgebürstet hatte.
»Ich fürchte, dass aus unserem Abendbummel nichts wird, Cheri«, murmelte
er, während er ins Jackett schlüpfte. »Mein Partner scheint mich ganz schön im
Stich zu lassen. Wir haben insgesamt heute vier Bestattungen. In einer halben
Stunde muss der Sarg von Edith Liron auf dem Cimetière de Montparnasse sein.«
Sie strich ihm das Jackett glatt und stutzte plötzlich.
»Nanu, Cheri?« Sie nahm mit spitzen Fingern ein langes, graues Haar von
seiner Schulter herunter. »Ergraust du langsam?« Es war ein sehr langes Haar.
Das Haar einer Frau.
»Wenn ich nicht wüsste, dass Mireille blonde Haare hat, würde ich sagen, es
ist eines von ihr, Cheri«, sagte sie leise. Jean Ecole war selbst ein wenig
überrascht. Er erinnerte sich daran, dass Mireille beim Tanzen den Kopf an
seine Schultern gelegt hatte.
Françoise hob warnend den Finger. »Wenn du mich betrügst, Cheri, dann wird
das böse Folgen haben!« Sie lachte ihn an. »Ich hoffe jedoch, dass du das nicht
gerade mit einer Oma versuchst. Schau mich an, da hast du
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