052 - Invasion der Toten
zu sehen.
Nur einen von ihnen meinte Jiina für einen flüchtigen Moment auf einem gegenüberliegenden Hausdach ausmachen zu können. Wie er allerdings so schnell da hinauf gekommen sein sollte, vermochte sie nicht zu sagen.
Um keinem der Jellos in die Hände zu fallen, kehrte sie auf dem gleichen Weg zurück, über den sie auch auf den Friedhof gelangt war. Das Licht der Straßenlaternen übte eine beruhigende Wirkung auf sie aus, sobald sie die Mauer überwunden hatte. Trotzdem schlug ihr das Herz weiter bis zum Hals.
Auf der Straße herrschte um diese Zeit nicht viel Betrieb. Die wenigen Passanten, die den fünfzig Kapuzenträgern begegneten, machten ausnahmslos Platz.
Einige drückten sich vor Angst dicht an den Fassaden entlang, einen Stofffetzen vorm Gesicht, um den Gestank zu ertragen.
Diese Leute um Hilfe zu bitten war reine Zeitverschwendung.
Jiina klopfte sich den gröbsten Dreck von ihren Sachen und ging den Toten einfach hinterher. Ganz so, als wäre sie eine Passantin, die zufällig das gleiche Ziel hatte. In einem belebten Viertel wie Downtoon konnte man es niemandem übel nehmen, weil er die Straße entlang ging. Die Frage war nur, wie lang diese Verfolgung andauern mochte.
Was, wenn die Toten gar zur Stadt hinaus zogen?
Egal. Jiina blieb nichts anderes übrig, als das Spiel so lange wie möglich mitzumachen.
Aufgeben kam für sie nicht in Frage. Das war sie Noak schuldig.
Während sie sich das Hirn zermarterte, sah sie plötzlich einen halbwüchsigen Knaben mit strohblondem Haar in einer Seitengasse verschwinden. Sie kannte ihn - es war Meik, der oft bei Brina übernachtete.
Mit schnellen Sprüngen eilte sie ihm nach und packte ihn an der Schulter.
»Hey, was soll das?«, protestierte er.
»Ich hab dir doch nichts getan!«
Jiina verschloss ihm den Mund mit ihrer zierlichen, aber kräftigen Hand.
»Still!«, herrschte sie den Jungen an.
»Ich habe nicht viel Zeit für Erklärungen, aber du musst mir helfen. Verstanden?«
Meik starrte entsetzt auf den Dolch in ihrer Rechten und nickte hastig. Jiina ließ die Waffe unter dem Umhang verschwinden, um ihm die Angst zu nehmen. Mit einem Blick um die Hausecke vergewisserte sie sich, dass der Leichenzug noch in Sichtweite war, dann wandte sie sich an Meik: »Hör gut zu! Du musst so schnell wie möglich Brina finden. Sag ihr, dass ich am Grab von Noak war. Seine Leiche und die von einigen anderen wurde fortgeschafft, aber ich bin den Räubern auf der Spur. Sag Brina…« Jiina hielt unwillkürlich inne, denn das, was sie gesehen hatte, war zu unglaublich um es laut auszusprechen. Erneut sah sie um die Hausecke. Der Leichenzug bog über ein Trümmergrundstück nach rechts ab.
Beim Anblick der vermummten Gestalten fasste sie neuen Mut. »Sag Brina«, wiederholte sie atemlos, »dass Noak und die anderen Toten leben!«
Meik quittierte diese Bemerkung mit weit aufgerissenen Augen. Ob vor Angst oder Unglauben, konnte sie nicht unterscheiden.
»Es stimmt, was ich sage«, versicherte sie vorsichtshalber. »Die Toten wandeln unter den Lebenden, doch es scheint, als würden sie unter der Kontrolle eines Jellos stehen. Vielleicht einer der Japse, die in Thorntons Diensten standen, denn ich habe Schatten in seiner Nähe gesehen. Ich gehe ihnen jetzt nach, um zu sehen, wo sie Noak und die anderen hinbringen. Hast du verstanden? Richte das Brina aus.«
Der Halbwüchsige rang sichtlich um seine Fassung. »Die Kuttenträger, die so gestunken haben«, brachte er endlich hervor, »das waren lebende Tote!«
Jiina nickte ernst, während sie ein paar silberne Münzen aus ihrer ledernen Börse fischte. Sie hielt sie lockend in die Höhe und ließ sich von Meik das Aufgetragene noch einmal wiederholen. Da er keinen Fehler machte, drückte sie ihm das Geld in die Hand. Meiks Augen leuchteten auf, denn für ihn war der Betrag ein kleines Vermögen.
»Zeig Brina, in welche Richtung wir gegangen sind. Wenn du sie hergebracht hast, bekommst du noch mehr«, versprach Jiina. »Ich muss jetzt weiter.«
Ohne einen Abschiedsgruß eilte sie dem Leichenzug hinterher. Jiina war in den Häuserschluchten von Downtoon aufgewachsen, entsprechend gut kannte sie sich in der Gegend aus. Sie kürzte den Weg ab und hatte die vermummten Gestalten bald wieder fest im Blick. Eine derart große Gruppe verlor man nur schwer aus den Augen.
Statt sich direkt an ihre Fersen zu heften, eilte Jiina durch parallel verlaufende Gassen, damit die Kittelträger nicht auf sie aufmerksam wurden.
Weitere Kostenlose Bücher