052 - Invasion der Toten
unwiderstehlichen Reiz auf sie aus. Wie die Deckenmalereien der St. George Cathedral, die sie in mühevoller Kleinarbeit wieder zum Vorschein brachte.
Beim Anblick der schweren Doppeltür straffte sich ihr vom langen Fußmarsch erschöpfter Körper. Nur noch fünfzig Schritte, dann konnte sie auf ihr weiches Strohlager fallen und den verpassten Schlaf nachholen. Sie mobilisierte ihre letzten Reserven und schritt weiter aus.
Ein dunkler Schatten wurde vor dem Eingang sichtbar. Zuerst wirkte er wie ein Kleiderbündel, dann entdeckte sie den blonden Schopf, der unter einer Kapuze hervor lugte. Es gehörte Meik, einem der vielen Waisen, die sich in Downtoon auf eigene Faust durchs Leben schlugen.
Während die meisten Kidds die Sicherheit der Gruppe suchten und sich zu Gangs zusammenschlossen, war er stets ein stiller Einzelgänger geblieben, der niemanden zu nah an sich heran ließ.
Armer Kerl, dachte Brina. Sicher brauchte er ein Quartier für die Nacht, und ich war unterwegs.
Meik half ihr des Öfteren, wenn sie ein Gerüst aufbauen oder Wandflächen für ein Gemälde vorbereiten musste. Im Gegenzug hielt Brina für ihn stets eine warme Mahlzeit und ein Dach über den Kopf bereit. Meik hätte auch dauerhaft in der Kirche wohnen können; Platz genug hatte sie ja. Aber gleich einem Bellit hielt es ihn nicht lange an einem Ort. Er war ein unruhiger Charakter, den es stets auf Wanderschaft trieb.
Lächelnd blieb sie neben ihm stehen.
Er lag noch im Tiefschlaf, obwohl die Sonne bereits seine Nase kitzelte. Hier im Freien konnte er erst spät zur Ruhe gekommen sein. Sie stupste ihn vorsichtig mit der linken Stiefelspitze an. »Aufstehen, du Faulpelz. Drinnen ist es viel wärmer.«
Murrend drehte er sich auf die andere Seite. Erst das durchdringende Quietschen, mit dem sich die Kirchentür in der rostigen Angel drehte - sie musste dringend etwas Schmierfett besorgen -, schreckte ihn auf. Mit verkniffener Miene rieb er sich den Schlaf aus den Augen.
»Da bist du ja endlich.« Seine Stimme klang vorwurfsvoll. »Ich habe die ganze Nacht auf dich gewartet.«
»Warum bist du nicht zu Jiina gegangen? Du hättest in ihrem Holzschuppen schlafen können, dass wäre besser als das Kopfsteinpflaster gewesen.«
»Jiina hat mich doch zu dir geschickt.«
Zwei steile Falten flankierten seine Nasenwurzel.
»Ich soll dir etwas ausrichten.« Aufgeregt kramte er eine Handvoll Silbermünzen aus der verschlissenen Wollhose. »Das hat sie mir gegeben, damit ich dich sofort hole.«
Meik war für seinen Botengang fürstlich entlohnt worden. Brina zeigte sich gebührend beeindruckt. Plötzlich fühlte sie eine schwere Last, die zusätzlich zum Rucksack auf ihre Schultern drückte.
Hastig schnallte sie das Gepäck ab, um nicht in die Knie zu gehen.
»Was gibt es denn so Eiliges?«, fragte sie.
»Jiina war auf dem Friedhof«, gab Meik wortgetreu wieder, was ihm aufgetragen wurde. »Die Gräber von Noak und einigen anderen waren jedoch leer. Sie sind von den Toten auferstanden und wandeln nun durch die Stadt. Jiina ist ihnen nachgegangen, um herauszubekommen, wohin sie wollen. Sie meint, die Japse stecken dahinter.«
Brina fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen.
Wortlos starrte sie auf Meik hinab. Wären nicht die Münzen in seiner Hand gewesen, sie hätte ihn glatt ausgelacht.
»Jiina sagt die Wahrheit«, fügte der Halbwüchsige eilig hinzu, denn er war sich seiner abenteuerlichen Botschaft durchaus bewusst. »Ich habe die Toten selbst gesehen und vor allem gerochen. Die haben vielleicht gestunken - ich kann dir sagen!«
Brina blickte sich unsicher auf der Straße um. Im Stillen hoffte sie, irgendwo eine lachende Meute zu entdecken, die sich einen üblen Spaß mit ihr erlauben wollte. Doch es gab keine Spur von betrunkenen Zechern. Nur ein paar vereinzelte Passanten hasteten vorüber, um den frühen Morgen für erste Besorgungen zu nutzten.
Alles schien erschreckend normal.
»Komm erst mal mit hinein«, forderte sie Meik auf. »Das musst du mir genau erzählen.«
Während sie die Leinenbeutel mit dem Farbpulver im Materiallager verstaute, ließ sie sich Jiinas Botschaft noch drei Mal ausrichten. Jedes Mal stellte sie dazu neue Fragen. Wann und wo hatte Meik ihre Freundin getroffen? Hatte Jiina vielleicht getrunken? Schien sie krank zu sein? War jemand in der Nähe gewesen?
Wurde sie vielleicht bedroht?
Meiks Antworten wurden immer einsilbiger, bis er trotzig die Arme von der Brust verschränkte und nur noch den Kopf
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