0528 - Der blaue Tod
Zellverbände, Knochen, Knorpel, Adern, Muskeln, Fleisch, Haut - sogar Kleidung. All das, wohin sie geglitten war, hatte sich in ihr festgebrannt; sie sah das Innere eines Menschen vor sich, vollzog den Sturz durch ihn hindurch im Zeitlupentempo noch einmal nach! Sie glaubte, darüber den Verstand zu verlieren, aber noch entsetzlicher war, daß sie den Blauen nun nicht mehr daran hindern konnte, Rhett zu erreichen!
Sie schrie!
Warum wachte Rhett von ihrem Schrei nicht auf und versuchte davonzukrabbeln?
Der Blaue hockte sich vor dem Jungen nieder, unerreichbar für Patricia, und streckte die Hand nach ihm aus…
***
Zamorra nahm Nicole den Dhyarra-Kristall aus der Hand und aktivierte ihn wieder. Dann begann er sich zu konzentrieren. Der Kristall strahlte Licht ab, zeigte damit, daß er etwas tat. Aus dem Nichts entstand eine Holographie, ein durchschimmerndes Etwas, das in lichtem Blau schimmerte. Die Konturen verfestigten sich, wurden zu einem menschlichen Schädel, dessen Blautönung um so mehr zunahm, wie das Gebilde materiell stabiler wurde. Schließlich lag ein massiver, blau funkelnder Schädel auf dem Holztisch, der auf Nicole den Eindruck machte, als sei er aus einem riesigen Dhyarra geschnitzt oder gemeißelt worden.
Aber es war natürlich kein Dhyarra. Er war nur aus Dhyarra-Energie geformt und in seiner Farbe dem blauen Schattenwesen angepaßt worden.
Das Glühen des Dhyarras erlosch. Das Gebilde aus Energie behielt seine Form und Konsistenz. Zamorra lächelte. »Das müßte genügen, denke ich.«
»Ein Sigill«, seufzte Nicole. »Sieht das hier so aus wie ein Sigill? Die Dinger sind flächig, zweidimensional. Wie Stempelabdrücke. Dieser Schädel, den du geformt hast, ist dreidimensional, ist plastisch.«
»Ich weiß«, gestand Zamorra.
»Und was nun? Willst du eine Querschnittscheibe heraustrennen? Oder willst du ihn von einer Dampfwalze plattfahren lassen?«
»Er bleibt so, wie er ist«, sagte Zamorra. »Die Dämonen, die über ihre Sigille gerufen werden können, sind drei- oder mehrdimensionale Wesen. Hier ist es vermutlich umgekehrt. Dem Blauen fehlt mindestens eine Dimension, also kehre ich das Verhältnis zwischen ihm und dem Schädelzeichen um.«
»Das ist absolut verrückt«, murmelte Nicole. »Bei Gelegenheit wirst du mir mal erklären, wie du auf eine dermaßen verquere Logik kommst, ja?«
»Ich weiß nicht, was daran verquer sein soll. Es ist eine reine Umkehrung. Ob es funktioniert, weiß ich nicht, aber es ist einen Versuch wert. Und den werde ich jetzt beginnen.«
»Die Zauberformeln für die Beschwörung murmelst du deshalb vermutlich auch rückwärts«, meinte Nicole.
»Ich denke, das wird nicht nötig sein. Sie müssen wahrscheinlich nur blau sein.«
Sie tippte sich an die Stirn. »Wenn ich mir nicht vorgenommen hätte, auf dich aufzupassen, während du deiner Zauberei nachgehst, würde ich dich jetzt mit deinen Verrücktheiten allein lassen. Es kommt mir fast so vor, als wärest du selbst blau.«
»Vertrau mir«, bat Zamorra. »Ich weiß, was ich tue.«
»Das«, murmelte sie fatalistisch, »macht es ja erst richtig schlimm…«
***
Er näherte sich dem Kind. Etwas an dem kleinen Wesen erschien ihm vertraut. Er bedauerte, daß die Mutter versucht hatte, ihn anzugreifen - es mußte die Mutter sein, denn mit seinen Para-Sinnen erkannte er verwandte genetische Strukturen. Als er dem Kind ganz nah war, begriff er, wen er vor sich hatte. Er erkannte den Saris ap Llewellyn wieder. Also war wieder eine Generation der Erbfolge entstanden. Wie mochte der alte Lord diesmal heißen?
Aber es war unwichtig.
Du hast mich damals als Auserwählten erkannt und mir den Weg zur Quelle des Lebens gewiesen, als es an der Zeit war, wie anderen vor mir und anderen nach mir. Vermutlich erinnerst du dich längst nicht mehr daran, mein Lord. Ich wünsche dir ein langes Leben, sandte er dem kleinen Lord die telepathische Grußbotschaft zu, wissend, daß er die gesprochenen Worte kaum begreifen würde.
Er erhob sich wieder und glitt durch die Wand davon. Der Mutter warf er keinen Blick mehr zu. Sie war für ihn nicht weiter von Interesse.
***
Kalte Schauer rannen über ihren Körper, als sie den Blauen durch die Wand verschwinden sah. Er hatte dem Jungen nichts getan, hatte ihn nicht einmal berührt, sondern nur vor ihm gehockt und ihn angesehen. Patricia konnte sich auch nicht des Eindrucks erwehren, daß es so etwas wie eine einseitige Kommunikation zwischen dem Blauen und Rhett gegeben
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