0528 - Der blaue Tod
mit gestrecktem Finger hob, schwebte auch der Schädel. Nicole hob die Brauen. Zamorra dirigierte den schwebenden Schädel durch die Luft in einen neuen Zauberkreis dicht neben dem mit dem Gemälde. Als er den Finger krümmte, erlosch die unsichtbare Verbindung; der Schädel folgte seinen steuernden Bewegungen nicht mehr.
»Was sollte denn diese Zirkusvorstellung?« fragte Nicole. »Ich wußte nicht, daß du neuerdings telekinetische Kräfte besitzt.«
»Die besitze ich nicht, aber es wäre nicht gut gewesen, den Schädel mit den Händen oder einem Hilfsmittel zu berühren. Zu gefährlich. Also mußte ich ihn schweben lassen. Ich habe ihn, als ich ihn mit der Dhyarra-Magie schuf, entsprechend eingerichtet, daß ich ihn mit einer Fingerbewegung dorthin dirigieren kann, wohin ich ihn haben will. Du könntest es auch - du mußt dich nur genügend darauf konzentrieren.«
Er begann Kreidezeichen zu verändern, während Nicole den Dhyarra-Kristall wieder in die Hand nahm und abwartend zuschaute. Schließlich war Zamorra soweit. Er hockte sich in seinen Schutzkreis, Nicole nahm in ihrem Aufstellung, und Zamorra begann die magischen Formeln zu sprechen.
Nicole machte sich bereit, mit dem Dhyarra-Kristall sofort zuzupacken, wenn der Blaue erschien…
***
Raffael Bois war alt geworden. Älter als die meisten anderen Menschen, und dabei hatte er das Glück gehallt, bis zum heutigen Tag agil zu bleiben. Sicher, seine Bewegungen waren nicht mehr so schnell wie früher, und seine Körperkraft hatte auch erheblich nachgelassen; er ermüdete leicht. Aber Krankheiten hatten ihn verschont, und er fühlte sich um mindestens 20 Jahre jünger, als sein Paß anzeigte.
Ohne ihn war Château Montagne überhaupt nicht vorstellbar. Er gehörte praktisch zum Inventar. Zamorra hatte darauf verzichtet, ihn beim Erreichen der Altersgrenze in Pension zu schicken - das hätte den alten Mann getötet. Sein Beruf war sein Leben, er war zu nichts anderem geschaffen und immer einsatzbereit, immer zuverlässig. Daß ihn jetzt der schottische Butler William unterstützte, den Lady Patricia mitgebracht hatte, sah er mit einem lachenden und einem weinenden Auge - zum einen hatte er einen Helfer, der ihm eine Menge Arbeit abnehmen konnte, zum anderen fühlte er sich gerade dadurch langsam, aber sicher zurückgedrängt. Natürlich sagte ihm sein Verstand, daß er nicht ewig lebte und es eines Tages alles vorbei sein würde. Aber er verdrängte den Gedanken daran einfach.
Bis zu jenem Augenblick, in dem unmittelbar vor ihm der Blaue durch die Wand trat und in seinem »Bereitschaftszimmer« auftauchte, wie er diesen Raum seiner kleinen Wohnung nannte.
Raffael sprang auf. Der Stuhl, auf dem er gesessen hatte, polterte zu Boden. Raffael wich zurück, stieß gegen das umgekippte Sitzmöbel und wäre fast gestürzt. Er hatte Mühe, seine Balance zu wahren. Als er wieder fest auf beiden Beinen stand, befand sich der Blaue zwischen ihm und der Sprechanlage, mit der er Zamorra hätte unterrichten können.
Auch die beiden Türen, eine in Raffaels Wohnzimmer, die andere zum Korridor hinaus, waren unerreichbar fern.
Der blaue Schatten hob die Hand. »Sie sind ein sehr alter Mann«, sagte er leise. Es war eine eigenartige Stimme, deren Klang Raffael durch und durch ging. »Alt und dem Tode nah. Näher, als Sie ahnen, mein Freund. Er streckt schon seine Hände nach Ihnen aus.«
»Gehen Sie fort«, stieß Raffael heiser hervor. »Verschwinden Sie. Lassen Sie mich in Ruhe.«
»Sie kämpfen«, sagte der Blaue. »Ein Kampf gegen den Tod, der aussichtslos ist. Ich kann Ihnen das alles erleichtern. Lassen Sie mich Ihnen helfen.«
»Sie sollen verschwinden!« fuhr Raffael ihn an, wich ein paar Schritte zurück. »Ich will Ihre sogenannte Hilfe nicht!«
»Aber es würde für Sie alles viel einfacher machen. Sie sind längst schon schwächer, als Sie ahnen. Warum wollen Sie einen kräftezehrenden Kampf führen, den Sie ohnehin nicht gewinnen können? Ich kann Ihnen helfen. Der Kampf wird ein schnelles Ende finden.«
Er will mich umbringen, durchzuckte es Raffael. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Dunkle Flecken erschienen vor seinen Augen. Sein Kreislauf spielte verrückt. Er hatte Angst vor dem Sterben. Er war so unglaublich alt geworden, aber es gab immer noch viel für ihn zu tun. Er konnte nicht einfach gehen, die Welt verlassen. Er war nicht bereit dafür.
Als er die Augen wieder aufriß, wieder sehen konnte, stand der Blaue direkt vor ihm. Er streckte
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