054 - Josephas Henker
Tisch eingeschlafen.
„Du siehst sehr schlecht aus“, sagte Josepha. „Dein Gesicht ist eingefallen, und du hast Ringe unter den Augen. Fühlst du dich nicht wohl?“
„Warum sollte ich mich nicht wohl fühlen?“ antwortete Paul grimmig. „Ein idyllischer Urlaubsort, lauter freundliche Menschen, Ruhe, Frieden und Komfort, was will ich mehr?“
Er nahm einen Schluck von dem Kaffee und verzog das Gesicht.
„Das schmeckt ja wie Spülwasser.“
Josepha nippte daran. Auch sie verzog den Mund.
Paul kratzte sich am Hals, bei den beiden roten Punkten.
„Das juckt“, sagte er. „In diesem Gasthaus scheint es auch noch Ungeziefer zu geben. Am besten wäre wohl, eine Brandbombe in die Bude zu werfen.“
Der Kaffee hatte Pauls Laune weder verbessert noch sein Befinden gehoben. Er und Josepha verließen das Gasthaus. Sie gingen auf dem schnellsten Weg zur Tankstelle. Keine Stunde mehr als nötig wollten sie in diesem gottverlassenen Nest bleiben. Der schmächtige Tankwart sah ihnen entgegen, als sie über die Straße auf die Tankstelle zukamen. Er hatte die Hände in den Taschen seines grauen Kittels vergraben.
Der Leihwagen stand noch an Ort und Stelle.
„Wie lange wird es denn dauern?“ fragte Paul.
Der Tankwart zuckte die Schultern.
„Ich habe die Lichtmaschine schon mal ausgebaut, aber reparieren kann ich nichts. Der Besitzer der Tankstelle hat einen Unfall gehabt. Er kommt erst gegen Abend.“
„Nein!“
„Doch. Tut mir leid für Sie beide, aber was soll ich machen?“
„Okay“, sagte Paul mühsam beherrscht. „Okay, mein Junge. Ich habe jetzt die Nase voll von eurer Tankstelle, von eurem Gasthaus und von eurem ganzen Dorf. Rufen Sie einen Abschleppdienst an, jetzt gleich und auf der Stelle. Hier bleibe ich nicht länger, in diesem … diesem Drecksnest!“
Paul brüllte mit voller Lautstärke. Hektische rote Flecken brannten auf seinen Wangen. Der Tankwart sah zu Boden, trat verlegen von einem Fuß auf den andern.
„So beruhigen Sie sich doch. Der Chef geht heute Abend gleich an die Arbeit, sowie er zurück ist. Morgen früh ist Ihr Wagen fertig. Spätestens um zehn können Sie losfahren.“
„Morgen früh um zehn?“
„Ja.“
„Okay. Keine fünf Minuten länger warte ich. Wenn der Wagen um zehn nicht fertig ist, dann kommt er woandershin. Und wenn ich ihn selber hinschieben muß.“
Paul drehte sich um, ließ den Tankwart stehen. Josepha warf dem jungen Mann einen Blick zu. Er vermied es, sie anzusehen. Paul lief über die Straße und weiter in Richtung Ortsmitte. Josepha konnte ihn nicht einholen. Sie rief. Er blieb stehen.
Als sie an seiner Seite war, sagte er: „Tut mir leid, ich habe die Nerven verloren. Aber dieses Nest macht mich noch verrückt. Es ist unglaublich, daß es so etwas gibt. Diese makabren Erlebnisse, die unheimlichen Träume, die Unfreundlichkeit der Leute.“ Er schüttelte den Kopf.
Josepha hängte sich bei Paul ein. Sie gingen ziellos durch die Straßen und Gassen des kleinen Ortes. Die wenigen Leute auf der Straße wichen ihnen aus. Männer gingen auf die andere Straßenseite. Frauen machten einen Bogen um Paul und Josepha, holten schnell ihre Kinder in die Häuser.
Dann standen Paul und Josepha auf dem Dorfplatz. Er war klein und eng, von niederen Fachwerkhäusern eingerahmt. Ein alter Brunnen mit einem Wasserspeier war in der Mitte des Dorfplatzes. Josepha sah sich um. Ein eisiger Schrecken durchfuhr sie.
Diesen kleinen, engen Dorfplatz kannte sie, und sie wußte auch woher. In ihrem Traum hatte sie ihn gesehen. Auf diesem Platz sollte sie hingerichtet werden. Von dort, zwischen diesen beiden Häusern hindurch, war der Henkerskarren gekommen. Rundum stand die Menge. Auf der Brunnenumrandung hatten Jungen und junge Männer gesessen. Überall, in den kleinen, engen Straßen, zwischen den Häusern, in den Zimmern, deren Fenster zum Dorfplatz hinausgingen, und auf dem Dorf platz selbst hatten sich die Menschen gedrängt. Alle wollten sie Josephas Hinrichtung sehen.
Auch Paul schien die Umgebung wiederzuerkennen. Josepha sah es an seinem Gesicht. Doch er sagte nichts. Auch sie schwieg. Wozu ein neues Rätsel den ungelösten hinzufügen?
„Das größte Fachwerkhaus dort ist das Rathaus“, sagte Paul. „Gehen wir dorthin. Irgend jemand muß uns doch sagen können, was in diesem Ort vorgeht.“
Doch im Rathaus fanden sie nur eine ältliche, vertrocknete Jungfer, die zwischen ihren Aktenschränken verstaubte. Es war die Verwaltungsangestellte. Eine
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