054 - Josephas Henker
unscheinbare, graue Maus mit einer Frisur, wie mit dem Staubsauger zurechtgemacht.
„Der Bürgermeister ist unterwegs“, erklärte sie den Besuchern. „Auf Dienstreise. Er kommt erst in vierzehn Tagen wieder.“
„Wer macht denn die ganze Arbeit in der Zwischenzeit?“
„Das Dringlichste erledige ich, der Rest bleibt liegen.“
Paul erwartete sich wenig Rat und Hilfe von der alten Jungfer. Trotzdem versuchte er es.
„Sagen Sie … Sind die Leute immer so merkwürdig hier? Man weicht uns aus, wo wir uns zeigen. Das Gasthaus ist wirklich miserabel, eine Bruchbude, das Essen ungenießbar. Wir haben Dinge erlebt, von denen wir nicht wissen, ob sie zu einem makabren Scherz gehören oder bitterer Ernst sind.“
„Ich weiß nicht, wovon Sie reden. Es ist mir völlig unerklärlich, was Sie an unserem Ort auszusetzen haben.“
Hier konnte er nicht weiterkommen, das sah Paul. Er überlegte.
„Sagen Sie doch bitte, gibt es hier ein Archiv oder eine Aufzeichnung der Ortsgeschichte?“ fragte Josepha.
„Im Keller“, sagte die Verwaltungsangestellte sofort. „Der Archivar kann Ihnen sicher weiterhelfen.“
Demonstrativ schlug sie eine Akte auf, vertiefte sich darin. Die Besucher waren entlassen. Paul und Josepha verließen den hohen Raum mit den Wasserflecken an den Wänden. „Ziege“, sagte Paul und schloß die Tür heftiger als nötig.
Im Keller fanden sie in einem nach Moder riechenden Raum einen winzigen, zittrigen Greis. In den Regalen ringsum an den Wänden standen alte, in Schweinsleder gebundene Folianten. Der Greis betrachtete Paul und Josepha durch seine Nickelbrille.
„Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?“ fragte er.
Außer ihm fand sich in den alten Aufzeichnungen sicher keiner zurecht.
„Gab es in diesem Ort früher Hexenprozesse? Zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges?“ forschte Paul.
„Sie sind Touristen? Amerikaner?“
„Ja. Aber meine Vorfahren stammen aus der Nähe von Nürnberg.“
„Wie ist Ihr Name?“
„Warringer, Paul Warringer.“
Man konnte fast sehen, wie das Gehirn des alten Mannes arbeitete.
„Warringer“, murmelte der alte Mann. „Warringer, Warringer.“
Plötzlich schien er sich zu erinnern. Er erhob sich und kam zu Paul und Josepha. Nach Art der Kurzsichtigen betrachtete er sie aus nächster Nähe. Vor Josepha fuhr er zurück. Sein Zittern wurde noch stärker.
„Verzeihen Sie. Verzeihen Sie. Ich vergaß. Und ich sehe so schlecht. Im Dreißigjährigen Krieg, während der Befreiungskriege gegen Napoleon und Ende des Zweiten Weltkrieges sind viele Unterlagen abhanden gekommen. Was von den Hexenprozessen, die es früher in ganz Europa gab, noch an Aufzeichnungen vorhanden ist, finden Sie dort drüben. Daneben liegt auch die Ortschronik aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges und ein paar Urkunden und Protokolle. Die Sachen sind nicht mehr vollständig, aber schließlich sind inzwischen über dreihundert Jahre vergangen.“
Unglaublich, dachte Paul, auf welche Geschichte und Tradition diese Leute in Europa zurückblicken konnten.
Der Archivar sah zu, wie seine Besucher in den alten Folianten blätterten. Es war eine mühevolle, zeitraubende Arbeit, die verschnörkelten Schriftzüge auf dem alten Pergament zu entziffern. Meist lohnte es die Mühe nicht, denn es ging um Pachtzahlungen ans Kloster und den Grafen, um die Entrichtung des Zehnten und die Entlohnung der Männer, die für die Gemeinde wichtig waren, wie Pfarrer, Lehrer und Schmied.
Doch dann fand Paul eine kurze Notiz.
Der Pfarrer Johann Maria Schloegel, Hirte des Herrn dahier von Anno Domini 1698 bis 1633, vermerkte, daß im Jahre 1623 in diesem Ort die letzte Hexe nach hochnotpeinlichem Verhör und vollzogener Hexenprobe durch das Schwert hingerichtet worden sei. Ihr Name war Josepha. Den Nachnamen konnte Paul nicht entziffern. Ihr Alter wurde mit 23 Jahren angegeben. Der Pfarrer bezeichnete sie als, aufreyzent Weipspild’, das ‚rothaarig, syndig und dem Theufel verfallen’ gewesen sei.
Paul behielt seine Entdeckung für sich. Er las die Notiz ein paarmal. Das Alter, der Name, die Haarfarbe, konnte das Zufall sein nach den Ereignissen der letzten Nacht und nach den schrecklichen Träumen, die Paul heimgesucht hatten? Paul nahm sich vor, ganz genau aufzupassen. Allmählich kristallisierte sich in diesem höllischen Spiel dunkler Mächte ein bestimmtes Schema heraus. Je mehr Paul davon erfaßte, um so weniger gefiel es ihm. War Josepha ein ahnungsloses Opfer oder war sie
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