055 - Labyrinth des Todes
an.
»Nichts«, sagte sie ungehalten.
Ich nickte und zeigte auf Cocos Grabstein. »Und auf diesem?«
Sie sah an Lundsdale vorbei und las: »Coco Zamis.«
»Sie haben mir sehr geholfen, Madame«, sagte ich und versuchte ein Lächeln, was aber kläglich mißlang.
Sie schüttelte den Kopf und stapfte weiter. Ich sah ihr lange nach, bis sie hinter einigen Gräbern verschwand.
Nachdenklich sah ich mich um. Offensichtlich war die Schrift nur für mich zu erkennen, und ich war sicher, daß Lundsdale die Schrift für mich sichtbar werden ließ. Das bedeutete, daß die Schwarze Familie von meinem Auftauchen unterrichtet war. Möglicherweise war ich auch ganz bewußt nach Hongkong gelockt worden und sie spielten nun Katz und Maus mit mir, eine Vorstellung, die mir alles andere als angenehm war.
Plötzlich war mir trotz der drückenden Hitze kalt. Vom offenen Grab her schien ein eisiger Wind auf mich zuzurasen, und es kam mir so vor, als wäre die Luft um mich mit spöttischem Gelächter erfüllt.
Schaudernd wandte ich mich ab und blieb vor Cocos Grab stehen. Heute nacht würde ich mir Gewißheit verschaffen, wer unter diesem Grabhügel ruhte. Ich würde erst an Cocos Tod glauben, wenn ich ihre Leiche gesehen hatte.
»Lundsdale!« sagte ich laut. »Lundsdale!«
Er reagierte nicht auf mein Rufen. Ich hörte Glockengeläute und drehte mich um.
Vom Friedhof her näherte sich ein Leichenzug. Voran ging ein winziges Männchen, das ein Glockenspiel in den Händen hielt. Hinter dem Männchen trugen vier Sargträger eine Totenbahre, auf der ein gläserner Sarg stand. Hinter dem Sarg ging kein Mensch.
Die Prozession kam rasch näher. Der Sarg glitzerte wie ein riesiger Spiegel in der Sonne. Ich versuchte, den Toten zu erkennen, was mir aber nicht gelang. Neugierig ging ich auf die Totengräber zu. Am Ende der Reihe blieb ich stehen. Das Glockengeläute hallte unangenehm laut in meinen Ohren wider.
Die Sargträger blieben jetzt stehen und stellten die Bahre ab. Ich kam noch zwei Schritte näher und prallte erschrocken zurück. Der Tote im Glassarg war mir nur allzu bekannt. Sein Haar war sorgfältig frisiert, schwarz und ziemlich lang. Er hatte einen dichten Schnurrbart, dessen Spitzen nach unten gezwirbelt waren. Der Tote war ein Meter neunzig groß, schlank und trug einen dunklen Anzug. Der Tote im Sarg war ich – oder mein Zwillingsbruder, wenn ich einen gehabt hätte.
Die Totengräber hoben den Sarg wieder hoch und gingen weiter. Das Glockengebimmel verstummte, und von einer Sekunde zur anderen war der Sarg leer. Niemand lag mehr darin.
Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn. Offensichtlich sehe ich schon am hellichten Tag Gespenster, dachte ich. Zögernd folgte ich den Totengräbern einige Schritte, doch der Sarg blieb leer. Erleichtert kehrte ich zu Lundsdale zurück, der aus seiner Erstarrung erwacht war und sich verwundert umblickte. Die Schrift auf dem Grabstein war verschwunden.
Hatte ich mir alles nur eingebildet? fragte ich mich, schüttelte dann aber den Kopf. Es war alles zu deutlich gewesen. Es war unmöglich, daß ich mich getäuscht hatte. Oder doch?
Ich fuhr mit der Hand über den Grabstein. Er war glatt. »Was machen Sie da?« fragte mich Lundsdale verwundert. Er sah ziemlich unsicher und ängstlich drein. »Nichts.«
»Ich will fort von hier«, sagte er mit versagender Stimme. »Ich halte es nicht mehr aus.«
Bevor ich ihn noch packen konnte, fing er zu laufen an. Sein Tempo steigerte sich, je näher er dem Ausgang kam. Er rannte, als wären sämtliche Teufel und Dämonen der Welt hinter ihm her. Einige Leute warfen uns verwunderte Blicke zu, doch ich achtete nicht darauf.
Als Lundsdale den Friedhof hinter sich gelassen hatte, ging er allmählich langsamer und blieb schließlich erschöpft stehen. Er lehnte sich gegen eine Hausmauer und keuchte. Kaum hatte ich ihn erreicht, sackte er zusammen. Ich konnte ihn im letzten Augenblick auffangen, hob ihn hoch, trug ihn die wenigen
Schritte zu seinem Wagen und hob ihn auf den Beifahrersitz. Er war noch immer ohnmächtig.
Ich klemmte mich hinters Steuer, schlug die Wagentüren zu und kurbelte die Fenster herunter. Dann steckte ich mir eine Zigarette an und rauchte hastig, dabei Lundsdale nicht aus den Augen lassend. Sein Atem kam röchelnd, doch er bewegte sich, bevor ich die Zigarette zu Ende geraucht hatte. Er schlug die Augen auf, sah sich um und schüttelte verständnislos den Kopf.
»Wo sind wir?« fragte er.
»Können Sie sich nicht
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