0558 - Aus dem Jenseits entlassen
Anziehungskraft aus.
Er hatte die Treppe kaum betreten, als er die Stimme der Frau vernahm. Einzelne Worte waren nicht zu hören, mehr ein Stammeln und unregelmäßig gesetzte Schrittgeräusche dazwischen, als irrte die Person durch den Keller.
Suko hastete die Treppe hinab und hatte sicherheitshalber die Beretta gezogen.
Die allerdings ließ er wieder sinken, als er die Person sah, die einem großen, breiten Gemälde den Rücken zudrehte und den Inspektor anstarrte wie einen Geist.
Suko schaute über sie hinweg. Er hatte auf der viertletzten Stufe gestoppt. Sein Gesicht war kantig geworden. Genau das Gemälde kannte er aus den Beschreibungen der Frau.
Die schwarze Leichenkutsche, die beiden Schimmel, das gelbe Licht in den gläsernen Laternenfüllungen, den Kutscher und die Reihe der Skelette hinter der Kutsche. Jeder dieser Gestalten hielt in der rechten Hand eine brennende Kerze.
»Er ist in das Bild hineingestiegen.« Suko hörte Gertys Stimme, die etwas Fremdes an sich hatte. Sie klang, als würde ein Roboter aus ihrem Mund sprechen.
Der Inspektor nickte, ließ die restlichen Stufen hinter sich und mußte die Frau auffangen, die plötzlich nach vorn und dabei in seine Arme kippte. Sie weinte, und Suko ließ sie einige Zeit in Ruhe, den Blick jedoch auf das Bild gerichtet.
Irgend etwas störte ihn daran.
Es lag nicht am Motiv allein, er fand es abstoßend. Wer sich so etwas in die Wohnung hängte, mußte einen Sprung in der Schüssel haben. Suko ging davon aus, daß der Platz des Bildes in diesem Keller bewußt gewählt worden war.
Er hörte die Frau sprechen. Ihre Stimme wurde des öfteren durch ein Schluchzen unterbrochen. »Ich bin mit ihm gekommen. Er… er hat mich hergeschleppt und bekam einen Totenschädel. Dann ist er in das Bild gestiegen. Er ist der Kutscher.«
»Und Sie?« fragte Suko. »Weshalb hat er Sie nicht mitgenommen?«
»Das ging nicht.«
»Weshalb nicht?«
»Da war noch jemand. Ein Fremder, den ich nicht kannte. Ein blonder Mann…«
Suko dachte sofort an seinen Freund John Sinclair. »Bitte, Mrs. Camrum, beschreiben Sie ihn.«
Die Frau brauchte nicht mehr als zwei Sätze zu sagen, da wußte Suko Bescheid.
»Wo ist der Mann jetzt?«
»Er… er …« Sie wischte Tränen aus ihren Augen und deutete mit der zitternden rechten Hand auf das Bild. »Gefolgt«, flüsterte sie.
»Er ist Paul gefolgt.«
»Stieg er in das Bild?«
»Ja!«
»Moment bitte, Mrs. Camrum.« Suko ließ die Frau stehen. Er mußte näher an das Gemälde heran, um Einzelheiten erkennen zu können. Einen Schritt davor blieb er stehen. Er dachte sofort an ein magisches Tor, durch das eine andere Welt betreten werden konnte.
Aber welche?
Gerty Camrum hatte vom Jenseits gesprochen. Nur wollte Suko nicht daran glauben, daß es sich bei dem Bildmotiv um das gezeichnete Jenseits handelte. Nein, das war eine andere Welt.
»Seien Sie bitte vorsichtig«, bat sie. »Sie sind der einzige Schutz, den ich habe.«
»Das geht schon in Ordnung.«
Suko suchte das Bild genau ab. Wenn John Sinclair hineingestiegen war, mußte er zu sehen sein. »Sie sind sicher, daß Mr. Sinclair in das Bild gestiegen ist?«
»Natürlich.«
Suko hob die Schultern. »Ich sehe ihn leider nicht.«
»Vielleicht…« Sie kam näher. »Ich will es ja nicht beschwören, aber jeder, der in das Bild steigt, verändert sich. Sie wissen schon, er bekommt einen Totenschädel.«
»Ja, ich habe verstanden«, murmelte Suko. »Sie meinen, daß sich Mr. Sinclair in diese Schlange der Monstren eingereiht hat?«
»So ähnlich.«
Suko dachte automatisch an das Schicksal der Jane Collins. Falls der Verdacht zutraf, sah es übel aus. Dann hätte John möglicherweise das gleiche Schicksal erlitten wie Jane und…
Seine Gedanken stoppten. Er war auf etwas gestoßen. Zunächst nur ein Verdacht, nicht mehr als ein Hinweis, aber dann sah er es genau. Auf der Ladefläche der Totenkutsche, wo auch der gläserne Sarg seinen Platz gefunden hatte, bewegte sich etwas.
In der Perspektive sehr klein, aber als Mensch zu erkennen.
John Sinclair?
Noch war sich Suko nicht sicher, und er hörte, als er sich weiter vorbeugte, Gerty Camrums Warnschrei.
»Vorsicht, mein Mann!«
Suko zuckte zurück und sah, wie das Bild aufplatzte, wobei eine lange Klinge aus der Leinwand hervorschoß…
***
Was ich vor mir sah, das kannte ich: die Kutsche, die unheimlichen Begleiter, die brennenden Kerzen, den Sarg, die gelben Laternen an den vier Seiten.
Aber was lag hinter
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