056 - Der Werwolf
Bein.
Der Wolf legte die Beute ab, fuhr herum und warf sich über den kleinen Hund. Wieder dauerte es nur einige Sekunden, dann war der Kampf vorbei. Jaulend flüchtete der Hund, fuhr dem Schäfer zwischen die Beine und brachte den hageren Mann im dunklen Umhang zum Stolpern. Der Wolf riß seinen Rachen auf, grinste Hund und Schäfer an und nahm die Beute wieder auf.
Einige Minuten später war er im Hochwald verschwunden und trabte seiner Höhle entgegen. Hier riß er das Lamm, fraß mit Genuß die besten Teile und zog sich dann, das Maul leckend, ins Innere der Höhle zurück.
Bevor er einschlief, wachsam und auf jedes verdächtige Geräusch lauschend, stellte er seinen Plan auf. Seinen Vater würde er erst am Schluß bestrafen. Zuerst war seine Schwester an der Reihe, dann sein Bruder, dieser selbstgefällige Spießer. Seine Frau und ihr Köter würden folgen, dann der Direktor der Bank, der ihm das lächerlich kleine Darlehen verweigert hatte. Schließlich würde er den gutaussehenden Arzt von Otterfing auslöschen!
Martha Franke war eine achtunddreißig jährige Frau, die es im Gegensatz zu ihrem jüngsten Bruder Christian vorgezogen hatte, sich rechtzeitig vom Elternhaus zu lösen. Sie besaß eine Gärtnerei, in der sie Blumen für die Geschäfte der umliegenden Kleinstädte züchtete. Seit einigen Monaten belieferte sie sogar einige Betriebe der Landeshauptstadt.
Martha hatte zwar genügend Angestellte, aber sie fand Spaß daran, selbst mitzuarbeiten. Mit Freude beobachtete sie das Aufblühen jeder Knospe, schnitt Blumen und suchte Pflanzen aus. Ihr Beruf war gleichzeitig ihr Hobby.
An diesem Morgen fuhr sie den Lieferwagen aus der Garage und parkte ihn rückwärts vor dem Eingang des größeren Gewächshauses. Sie sah zum Himmel hinauf. Der Tag versprach schön zu werden – einer dieser späten Herbsttage mit Sonne und blauem Himmel.
Frau Franke schloß das Gewächshaus auf und blieb einen Augenblick im Eingang stehen. Es war noch ziemlich früh, doch auf der nahen Bundesstraße fuhren schon die ersten Werksbusse, die Pendler zu ihren Arbeitsstätten brachten.
Auf dem Feldweg, der von der Straße an die Rückfront des weiträumigen Gartens führte, bemerkte sie einen großen Hund, der vermutlich gewildert hatte.
Flüchtig gingen Martha Franke die Worte des Nachrichtensprechers durch den Kopf, die sie vorhin gehört hatte. Doch im gleichen Moment hatte sie es wieder vergessen. Sie trat ins Innere des Treibhauses, um Blumen für die erste Lieferung auszusuchen.
In einer Hand den Notizblock, in der anderen den Stift, ging sie durch den Mittelgang, hakte die Bestellung ab und stellte die einzelnen Sorten zusammen.
Als sie sich etwa in der Mitte des langgestreckten Bauwerkes befand, hörte sie plötzlich ein Geräusch vom Eingang her. Vermutlich ein früher Kunde oder einer ihrer Mitarbeiter. Sie drehte sich um.
Vor Schreck ließ sie den Stift zu Boden fallen …
Im Eingang stand der große, schwarze Hund, den sie eben draußen gesehen hatte …
Ein entsetzlicher Gedanke durchfuhr die Frau. Der Wolf aus den Nachrichten! Der Killerwolf! Mit irrem Blick starrte sie auf die Bestie.
Das Tier stand ganz ruhig da und betrachtete sie mit seinen geschlitzten, grünlich leuchtenden Augen. Die Zunge hing ihm aus dem Rachen. Der Wolf schien sie anzugrinsen oder anzulachen.
Martha war keine mutige Frau, aber in diesem Augenblick fürchtete sie sich nicht. Noch nicht. Sie hob den Block hoch, der auf einer Sperrholzunterlage festgeklammert war und rief mit heiserer Stimme: „Schsch! Raus hier! Scher dich weg, du …“
Der Wolf reckte den Schädel nach vorn, und es sah aus, als ob er gähnte. Dann machte er einige zögernde kleine Schritte auf die Frau zu. Er sah ihr direkt ins Gesicht.
Sie entsann sich eines Ratschlages, den ihr der Vater einmal gegeben hatte. „Starre den Tieren in die Augen, ganz fest, und sie werden sich zu fürchten beginnen!“ Martha starrte den Wolf an, als wolle sie ihn hypnotisieren, doch langsam spürte sie, wie die nackte Angst in ihr hoch kroch. Der Killerwolf! Dieses ausgebrochene Scheusal, das Menschen tötete und Schafe riß! Hinter dem die Förster der ganzen Gegend her waren und alle Polizisten der Polizeistationen!
„Hinaus!“ sagte sie, aber ihre Stimme klang nicht mehr fest und überzeugend. Auch das Anblicken half nichts. Ruhig musterte der Wolf die sichere Beute und kam näher. Sie sah, wie sich seine Muskeln spannten. Er setzte zum Sprung an.
Martha
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