056 - Der Werwolf
Franke drehte sich herum, griff nach einem Topf voller Erde und Blumen und schleuderte ihn dem Wolf entgegen. Krachend landete der Tontopf auf dem Schädel des Tieres. Der Wolf schüttelte den Kopf, wich den Splittern aus und schob mit einer Pfote die Blumen von seiner Schnauze und den Ohren, dann wich er zurück.
Martha war mutiger geworden. Sie packte einen weiteren Topf und wartete.
Der Wolf sprang nach vorn und knurrte böse auf. Martha Franke schleuderte ihm den Topf entgegen, aber er warf sich zur Seite. Während er auf dem Boden in Scherben zerbrach, sprang das schwarze Tier vorwärts und gleichzeitig nach oben.
Die Frau stand wie gelähmt. Sie sah die schimmernden Zähne und roch den Atem des Raubtiers, der nach Aas und Verwesung stank. Dann schlossen sich die Kiefer des Wolfes um ihren Hals.
Martha strauchelte und fiel nach hinten. Mit letzter Kraft klammerte sie sich an einem feuchten Pfosten des Treibhauses fest. Der schwere Wolfskörper drehte und wand sich. Schmerz und Angst machten die Frau besinnungslos. Der Griff ihrer Finger lockerte sich. Sie schlug zu Boden, mitten hinein in die krümelige Erde, zerbrochene Pflanzen und die scharfkantigen Scherben der Blumentöpfe.
Der Wolf ließ von seinem Opfer ab, drehte sich herum und leckte sich das süßliche Blut von den Lefzen. Langsam trabte er durch das Gewächshaus, verhielt kurz vor dem Ausgang und spähte nach allen Seiten. Die Aufregung des Mordens hatte ihn gleichermaßen erschöpft und gekräftigt. Er spürte ein nie gekanntes Wohlgefühl.
Sein nächster Gedanke war, sich tagsüber zu verstecken und in der Dunkelheit nach Larching zu laufen.
Er ließ den fauligen Geruch sterbender Blüten und das Gemisch chemischer Gifte und Nährlösungen hinter sich. Seine Wolfslungen weiteten sich, als er leichtfüßig über die Felder auf das nahe Wäldchen zulief, in dem er sein Versteck hatte. Es lag hoch genug, um beobachten zu können, wenn sich ihm jemand nähern wollte.
Immer wieder blickte sich das Tier um, doch niemand folgte ihm. Nur einmal sah er auf der Bundesstraße einen roten Sportwagen. Der Fahrer verringerte die Fahrt und sah in seine Richtung, doch der Wolf duckte sich in einen Entwässerungsgraben und schlich sich, den Bauch dicht am Boden, davon.
Später bemerkte er, wie der Wagen weiterfuhr.
In der Wohnung über dem kleinen Laden läutete das Telefon – zehnmal, elfmal, aber niemand hörte es.
Nichts hatte sich verändert.
Der Lieferwagen stand noch am gleichen Platz, die Tür zum Gewächshaus stand offen. Bis auf das Geräusch der vorüber fahrenden Autos war es totenstill. Irgendwo in den Zweigen zwitscherte ein erster Vogel und machte die Stille noch deutlicher, noch beklemmender.
Wieder läutete das Telefon. Die schrillen Töne durchschnitten den klaren Morgen, aber niemand hob ab.
Eine Viertelstunde später kam der Fahrer des Lieferwagens. Er stellte sein Auto an den gewohnten Platz und sah erstaunt, daß der große Wagen bereits vor dem Gewächshaus geparkt war.
Es klingelte erneut. Langsam ging der Mann auf den Laden zu, dessen Tür einen Spalt breit offen stand.
„Hallo, Chefin!“ rief er, „Telefon!“ Und nach einer Weile. „Ist denn niemand hier?“
Er bekam keine Antwort.
Das Telefon schrillte noch immer, jetzt direkt über dem Fahrer, im ersten Stock. Er zuckte zusammen. Eine böse Vorahnung überfiel ihn.
„Chefin – hören Sie nicht?“ versuchte er es noch einmal.
Der Fahrer verließ den Laden, in dem es kühl war und immer ein wenig nach Friedhof roch. Er überquerte den kleinen Hof, um Martha Franke zu suchen. Sie war wohl im Gewächshaus. Er warf einen flüchtigen Blick ins Innere, sah dann aber genauer hin und stürzte hinein.
In einer riesigen Blutlache sah er Martha Franke liegen.
Ihr war nicht mehr zu helfen.
Entsetzt starrte der Mann auf seine tote Chefin, und plötzlich wurde er sich der unheimlichen Stille bewußt, die ihn umgab.
Das Telefon läutete nicht mehr.
Es war weit nach Mitternacht. Auf dem niedrigen Tisch brannten drei Kerzen im silbernen Leuchter langsam herunter. Von den Spitzen der Flammen ringelten sich dünne Rußfäden. Barbara lag neben Gerd und rauchte langsam eine Zigarette.
„Wenn das stimmt, Gerd, dann sind wir alle bedroht. Aber ich kann es einfach nicht glauben!“
„Wir sind in Gefahr“, erwiderte er und drehte sich halb herum. „Nicht nur wir beide, sondern auch eine ganze Menge anderer Leute. Christians Bruder zum Beispiel. Oder dein
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