056 - Der Werwolf
Schwiegervater. Sie alle hatten – nach seiner Meinung – etwas gegen ihn. Sie haben ihn geärgert, beleidigt oder verletzt, und er wird sich an ihnen rächen wollen. Von mir weiß ich es genau. Er warf mir vor, mit dir ein Verhältnis zu haben.“
„Aber …“, sie drückte den Zigarettenrest aus. „Das war doch erst lange danach. Nach dem Beginn seiner Krankheit!“
„Das spielt keine Rolle, Babsi!“
Der Hund winselte leise in der Küche, dann schlief er weiter.
Gerd betrachtete die junge Frau neben sich. Sie hatte die Figur eines jungen Mädchens. Langes, schwarzes Haar, das jetzt über das Kissen gebreitet war. Dunkle Augen in einem schmalen, ovalen Gesicht, die ihn aufmerksam betrachteten. Sie beide waren glücklich, aber jetzt mischte sich eine erste Spur Angst in ihr Glück.
„Du meinst allen Ernstes, daß es so etwas gibt, Gerd? Gerade du als Arzt glaubst …?“
Er winkte ab und nahm einen großen Schluck aus dem Sektglas. Dann schob er seine Hand unter ihren Nacken und wickelte sich eine Haarsträhne um die Finger.
„Ja und nein. Natürlich glaube ich nicht, daß sich dein Mann in einen Werwolf verwandelt hat. Aber es ist eigentümlich, wie sich die Zufälle häufen. Das mußten selbst die Polizisten zugeben.“
„Ich verstehe das alles nicht!“ Barbara schüttelte wild den Kopf. Sie wußte nicht, wovor sie sich zu fürchten begann, aber unzweifelhaft ängstigte sie sich. Sie schob sich näher an Gerd heran.
„Ich auch nicht, mein Liebes. Trotzdem sollten wir uns in acht nehmen. Bis sie den Wolf gefangen haben, kann noch viel Zeit vergehen und eine Menge geschehen.“
„Und wie sollen wir uns vor ihm schützen? Etwa die Wohnung nicht verlassen?“
„Unsinn, aber bestimmte Situationen meiden. Zum Beispiel nachts nicht allein durch dunkle Straßen gehen! Wir wohnen am Rande der Großstadt, und niemand würde es bemerken, wenn uns das Tier suchen und angreifen würde.“
Sie nahm ihm das Sektglas aus der Hand und trank einen Schluck. „Ich glaube, du übertreibst“, meinte sie. „Ein erwachsener Mann, ein Akademiker dazu, hat Angst vor einem Wolf. Ich verstehe die Welt nicht mehr!“
„Immerhin war Frau Lassner der Ansicht, die Bestie habe genau gewußt, was sie tat. Und zu diesem Zeitpunkt war dein Mann schon tot!“
Gerd Becker wußte selbst nicht zu erklären, weshalb er seiner Sache so sicher war. Eigentlich verließ er sich weniger auf seinen Verstand, als auf sein Gefühl. Es gab einfach zu viele Parallelen: Der Patient Franke, sein Zustand, seine Wünsche und zahllose Bemerkungen, die er während der Untersuchungen gemacht hatte. Der Tod derjenigen Personen, die er als seine Gegner bezeichnet hatte. Zufälle? Nichts als Zufälle? Selbst die Polizisten waren verblüfft weggegangen, nachdem sie sich mit ihm unterhalten hatten.
Vielleicht setzte er sich der Gefahr aus, ausgelacht zu werden. Aber war es. nicht besser, diese mysteriösen Morde in sein Denken einzubeziehen, um sich dagegen wehren zu können? Darüber hinaus hatte er die Pflicht, Barbara zu beschützen.
„Frau Lassner war vermutlich halb irre vor Schreck und Schmerz, Gerd! Es ist doch völlig unmöglich!“ sagte Barbara und schmiegte sich an ihn.
Er zuckte die Schultern.
„Du solltest jedenfalls vorsichtig sein, bis sie den Killerwolf haben. Und … warne Frankes Angehörige. Du kennst sie besser als ich.“
„Natürlich. Ich werde sie anrufen.“
Barbara Franke wurde sehr nachdenklich. Wenn selbst Gerd die Möglichkeit einkalkulierte, daß sich ein Mensch in einen Wolf verwandeln oder ein menschlicher Verstand in den Körper eines Wolfes schlüpfen konnte, dann war es schlimm. Es bedeutete, daß er ernsthaft Furcht empfand.
Sie flüsterte an seinem Ohr: „Hast du Angst, Gerd?“
„Ja. Um dich und mich“, brummte er und zog sie an sich. Seine Finger streichelten ihren schlanken Rücken. „Wenn sich alles als Zufall herausstellen sollte, werden wir fürchterlich lachen. Wenn nicht, dann sind wir gewarnt. Du rufst sie an, ja? Versprichst du’s?“
„Ja. Selbstverständlich.“
Merkwürdig, dachte er, während sie sich küßten. Seit Jahren die erste Frau, mit der ich wirklich glücklich bin. Ich glaube, ich liebe sie wirklich. Kein kurzes Verhältnis, wie bisher. Und ausgerechnet diese Frau mußte mit einem Paranoiker verheiratet sein, dessen Schatten sie aus dem Grab heraus bedrohte. Wirklich, eine mehr als groteske Sache.
„Liebst du mich?“ flüsterte Barbara neben ihm, während sie Gerds
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