0564 - Die Gräber seiner Ahnen
Stimmen wie einen fernen Hauch. »Wir sind gekommen…«
»Wer seid ihr?« rief ich laut.
»Seine Ahnen. Wir sind gekommen, um ihn zu begraben. Wir werden ihn holen…«
Ich wußte genau, daß damit nur eine Person gemeint sein konnte.
Abbé Bloch!
***
Suko war durch den Ort gegangen und hatte sich nur mehr gewundert. Kein Mensch war ihm begegnet. Weder einen Hund noch eine Katze sah er, auch keinen Vogel, sondern war hineingeschritten in die unheimliche Stille dieser Zeit zwischen den Jahren.
Diese Tage kamen ihm vor wie eine Abrechnung mit dem Vergangenen, wo der Mensch ganz allein und auf sich gestellt war und über die verflossenen Monate nachdachte.
An der Kirche hatte er seinen Weg unterbrochen. Zunächst hatte er sich nicht getraut, hineinzugehen, war dann von dem Gedanken ausgegangen, daß die Bewohner von Alet-les-Bains möglicherweise in der Kirche Schutz gesucht hatten.
Die alte Tür war nicht verschlossen. Sie knarrte, als Suko sie aufzog.
Sein Blick fiel in das leere Kirchenschiff. Vorn am Altar brannte das Ewige Licht. Eine kleine rote Lampe, die den Lebensfunken und das Symbol der Hoffnung abstrahlte.
Die Bänke, die Kanzel und die Figuren an den Wänden schienen von der Stille erdrückt zu werden; die auch bei Suko eine Gänsehaut hinterließen.
Unheimlich war es…
Er räusperte sich einige Male und lauschte dem Echo nach. Dann verließ er das Kirchenschiff und ging den schmalen Weg an der Westseite vorbei, der ihn auf den kleinen Friedhof der Gemeinde brachte. Buschwerk verdeckte zahlreiche Grabsteine und Kreuze.
Der Friedhof war sehr alt, er gehörte der Vergangenheit an, denn beerdigt wurde hier niemand mehr. Wenn der Abbé von einem Friedhof gesprochen hatte, mußte er einen anderen gemeint haben.
Suko stieß ein rostiges Eisentor auf und verließ den einsamen Totenacker. Der schmale Weg führte bergauf. Winterlich kahle Büsche säumten ihn. Sukos Blick glitt den Hang hoch, bis dorthin, wo die Ferienhäuser der Städter standen, die mit Alet-les-Bains selbst nichts zu tun hatten. Sie und die Bewohner der Stadt, das waren zwei verschiedene Welten.
Die Häuser krallten sich mit ihrem Gestein im harten Boden fest.
Hinter den Fenstern schimmerte kein Licht. Jedes Haus wirkte tot und verlassen.
Da Suko das Gefühl hatte, verfolgt zu werden, drehte er sich einige Male um, sah jedoch niemanden.
Dafür sah er, wie sich eine Stalltür bewegte. Der Eingang zu einem schmalen Anbau wurde von innen aufgedrückt, und eine alte Frau erschien. Sie trug ein langes Kleid, eine Stola über der Schulter und ein Kopftuch. Alles in dunklen Farben.
Nur ihr Gesicht unter dem Kopftuch wirkte heller. Als sie Suko sah, blieb sie stehen.
Auch der Inspektor ging nicht mehr weiter. Er versuchte, im Gesicht der Frau zu lesen, wie sie ihm gegenüber eingestellt war, konnte jedoch keine äußerlichen Anzeichen von Feindschaft entdecken.
Langsam und freundlich nickend ging er auf die alte Frau zu.
»Bonjour«, grüßte er und fragte danach: »Wer bist du?«
Sie hob mit einer müden Bewegung den Arm und deutete auf zwei schwarze Vögel, die über dem Ort hinwegsegelten. »Ich bin wie sie. Nur habe ich es noch nicht geschafft. Ich muß warten, ich muß bleiben, aber ich werde auch gehen.«
»Darf ich nach dem Ziel fragen?«
»Suchst du es etwa auch?«
»Ich suche den Friedhof, von dem der Abbé gesprochen hat.«
Die Frau war nicht einmal überrascht, als Suko den Namen des Abbés ausgesprochen hatte. »Ja, ich weiß. Er hat es uns gesagt. Es ist furchtbar für ihn und uns.«
»Der Friedhof?«
»Alles, mein Freund. Du bist fremd, aber ich kenne dich.« Sie wies mit dem Zeigefinger auf ihn. »Ich habe dich schon gesehen. Bist du nicht aus einem anderen Land?«
»Ja, aus England. Ich bin ein Freund des Abbés.«
»Das weiß ich auch.«
»Ich möchte ihn finden. Ihn, die anderen Templer und die Menschen, die hier gelebt haben. Wo sind sie? Weshalb sind sie verschwunden? Der Ort ist tot und leer. Es muß einen Grund haben. Und weshalb bist du nicht mitgegangen?«
»Ich bin die letzte, und ich werde jetzt gehen. Ich muß den Ort verlassen, um auch meine letzten Jahre noch leben zu können. Jeder Mensch, der hier bald angetroffen wird, ist des Todes. Wir müssen zu einem anderen Ort.«
»Darf ich mitgehen?«
»Ich weiß nicht, ob du es willst. Es ist ein Friedhof. Oder nicht ganz. Wir bleiben nur in der Nähe.«
»Weshalb?«
»Weil die Gräber seiner Ahnen sich öffnen werden und diejenigen
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