0564 - Die Gräber seiner Ahnen
entlassen, die einmal hier gelebt haben. Eine furchtbare Zeit ist angebrochen. Die Toten wollen nicht mehr in der kühlen Erde ruhen. Sie wollen sich unter die Lebenden mischen. Mächtige Dämonen herrschen uns, der Abbé ist geflohen, auch er hat sich verändert, und wir wollen nur unser Leben retten.«
Suko schüttelte den Kopf. »Das ist eine Flucht…«
»Sicher.«
»Wollt ihr denn nicht zurückkehren?«
»Doch. Niemand weiß, wann es genau sein wird. Wir warten auf ihn, auf den Abbé.«
»Ihr vertraut ihm?«
»Ja.«
»Wißt ihr auch, daß er angeblich jemand getötet haben soll?«
»Es sprach sich herum. Da wußten wir, daß es Zeit war, Alet-les-Bains zu verlassen.« Sie drehte sich um und zog die Tür des Anbaus zu. Einen alten Koffer nahm sie noch auf, aber Suko ergriff das Gepäckstück. »Laß mich es tragen.«
»Danke sehr.«
»Bist du allein?«
Sie nickte. »Meine Kinder wohnen in einer großen Stadt, mein Mann starb, ich lebe allein.«
»Wie heißt du?«
»Douse. Die alte Douse.« Das faltige Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. »So nennt man mich hier.«
»Ich habe dich aber nie gesehen«, sagte Suko, »und ich war schon öfter hier.«
»Das kann gut sein, mon ami. Viele Menschen kommen zu uns, halten sich im Ort auf, aber sie sehen so gut wie nichts. Von den Einheimischen kennen sie keinen, und sie interessieren sich auch nicht dafür. Die wahren Geheimnisse liegen tief verborgen. Ihre Wurzeln reichen bis in die Erde hinein.«
»Zu den Toten?«
»So ist es«, erwiderte die alte Douse. »Wir leben an einem magischen Ort, wo Grauen und Magie eine gewisse Einheit bilden. Es ist nicht einfach, das weiß ich genau, die meisten wollen es auch nicht begreifen, und es ist besser so.« Die Frau schaute zum Himmel hoch.
»Wir müssen gehen. Bist du allein gekommen?«
»Nein, ein Freund hat mich begleitet. Er ist auch gleichzeitig ein Freund des Abbés.«
»Befindet er sich im Ort?«
»Ja, er will warten. Er weiß, daß ich den Friedhof suche, von dem der Abbé gesprochen hat. Was ist es für ein Friedhof? Wo liegt er? Wird dort noch jemand begraben?«
»Komm mit mir, dann wirst du es sehen.«
Suko stellte keine weiteren Fragen mehr. Er wunderte sich nur darüber, daß die alte Frau erstaunlich frisch losschritt. Über das Tempo wunderte er sich, aber diese Person war hier groß geworden.
Sie wußte, wie man laufen mußte.
Ein schmaler Weg wand sich den Hang hoch. Die Häuser wirkten klein und geduckt. Bei einigen standen die Türen offen, andere wiederum wirkten unbewohnt.
Schon sehr bald hatten sie auch die letzten Häuser des Ortes hinter sich gelassen. Vor ihnen breitete sich das Gelände aus. Bewachsen mit Sträuchern, kleinen Bäumen, die sich weiter oben zu einem Wald verdichteten. Diese Gegend kannte Suko nicht. Wenn er Alet-les-Bains verlassen hatte, dann in einer anderen Richtung, wo ihn der Weg zwischen die Felsen in die alte Kathedrale führte.
Suko schaute auf den gekrümmten Rücken der alten Frau. Geschickt wich sie den Hindernissen aus, die wie alte mächtige Steine aus dem Boden ragten.
Der Himmel mit seinen bleigrauen, zungenartigen Wolken schwebte über ihnen wie ein Gemälde. Keine Sonne schaute hinter den Wolken hervor, alles blieb bleigrau.
»Wir müssen dorthin, wo du den kleinen Wald siehst, Suko. Da liegt der Friedhof.«
»Du kennst meinen Namen?«
»Hier im Ort bleibt fast nichts verborgen. Ein Fremder bist du für uns nicht.«
»Das glaube ich auch.«
Der Wald hob sich als dunkler Fleck ab. Wie eine schräge Insel wuchs er auf dem Hang. Seine Bäume waren nicht sehr hoch gewachsen, sie wirkten wie ein schiefes Relief, bei dem sich die laublosen Kronen umarmt hatten.
Menschen sah Suko nicht. Falls die Einwohner sich tatsächlich am Wald aufhielten, hatten sie sich gut verstecken können. Vor ihm stand der Friedhof wie eine düstere Kulisse.
Die Grabsteine ragten wie mahnende Finger hervor, als wollten sie die Lebenden warnen. Es gab keine Wege. Wer den Friedhof betrat, mußte sich zwischen den Steinen einherbewegen.
So auch Suko und die alte Douse. Bei den ersten Steinen blieb sie stehen und ruhte sich aus. Ihr Atem pfiff, der Weg hatte sie doch sehr angestrengt.
»Soll ich dir helfen?« erkundigte sich Suko.
»Nein, mein Freund, laß es nur. Ich werde weiterhin allein gehen. Außerdem fürchte ich mich nicht.«
Sie setzte sich wieder in Bewegung. Gebeugt ging sie, den Blick zu Boden gerichtet.
Noch lag der Friedhof völlig normal unter dem
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