0568 - Die Braut des Wahnsinns
darunter trug oder nicht. Nur einen Slip sollte sie anziehen, das hatte Simon zur Bedingung gemacht.
Eigentlich war er ein Mann, vor dem sie sich hätte fürchten müssen. Er kannte keine Regeln und lebte deshalb auch völlig außerhalb der Norm.
Er war Dingen gegenüber aufgeschlossen, die nicht in den normalen Rahmen hineinpaßten. So besaß er keinen Glauben. Der Begriff Gott war aus seinem Sprachenschatz gestrichen worden. Einmal hatte er Wendy von anderen Dingen erzählt. Sie hörten sich gefährlich an, und Simon hatte sie mit den wahren Mächten verglichen.
Ob er recht behielt, konnte sie nicht sagen. Nur hatte er es verstanden, alles sehr überzeugend darzustellen, ebenfalls das Ritual der Hochzeit.
Keine Kirche, kein Pfarrer, keine entsprechende Kleidung, und doch sollte die Feier in einer Kapelle stattfinden.
Das Mädchen wußte nicht, wo sie sich befand. Eine normale Kirche jedenfalls war es nicht. Sie traute sich auch nicht mehr, danach zu fragen. Eine Antwort hätte man ihr nicht gegeben.
Wendy öffnete die Augen, als sie ihren schlanken Körper nach links drückte und dicht vor der Bande in die Kurve fuhr. Mit langen Schritten beschleunigte sie das Tempo, bis zu dem Punkt, von wo aus sie springen konnte und hineinwirbelte in den doppelten Rittberger, den sie perfekt beherrschte.
Beim glücklichen Auslaufen lachte sie derart auf, daß dieses Echo über die Fläche hinwegschallte.
Es war einfach wunderbar, sich dermaßen fließend und elegant bewegen zu können.
So lief sie weiter und drehte ihre Pirouetten.
Das Eis war ihre Welt, hier lief sie ihre Runden, hier wurde sie nicht gestört – bis sie plötzlich das etwas schrill klingende Fiepen hörte.
Wendy kam es vor, als würde sie aus einem Traum erwachen und gleichzeitig etwas Fürchterliches erleben.
Das Fiepen erinnerte sie an die Begegnung mit den Ratten in der Umkleidekabine, doch hier würden sie nicht sein, nein, das wollte sie nicht wahrhaben. Hier konnten sie nicht sein, es war einfach unmöglich.
Weit öffnete sie die Augen, verringerte das Tempo und suchte die Eisfläche ab.
Die Kraft der beiden Strahler reichte nicht aus, um in alle Ecken zu leuchten. Es gab noch einige dunkle Stellen, auf die sie zufahren mußte, um dort etwas erkennen zu können.
Eine Ratte sah sie nicht.
Vorerst nicht. Doch die Erinnerung daran ließ sie frieren, obwohl sie durch das Laufen ins Schwitzen gekommen war.
Wendy blieb weiterhin stehen und wischte über ihre Stirn. Der Schweiß war kalt, erinnerte sie an Eis, und sie fragte sich, ob sie sich das Geräusch nicht eingebildet hatte.
Ratten über die Eisfläche laufen zu sehen, wäre etwas Furchtbares gewesen.
Nichts tat sich. Auch als ihre Blicke an den Innenseiten der Banden entlangglitten, sah sie keinen dieser dunklen Körper, die sich dort aufhielten.
Doch eine Täuschung?
Vielleicht. Allerdings mußte sie zugeben, daß sich Ratten durchaus hierher verlaufen konnten. Sie wußte, daß ein direkter Zugang von der Halle aus zu den Abwasserkanälen der Millionenstadt existierte.
In dieser Unterwelt hielten sich gern Ratten auf.
Wendy wollte nicht mehr laufen. Die Stimmung war plötzlich weg. Mit einer müde wirkenden Bewegung drehte sie sich zur Bande hin, um das kleine, offene Tor anzusteuern, das offenstand.
Sie kam nicht weit, denn vor ihr, aus dem Schatten der Bande, lösten sich die Tiere.
Ratten – wohin sie schaute.
Zählen konnte Wendy sie nicht. Sie sah nur, daß sie in einer Linie auf sie zuhuschten…
***
Eis ist glatt, das merkten auch die Vierbeiner, die sich so schnell bewegten, oftmals rutschten und sich dabei überkugelten, sich immer wieder fingen und vorwarfen.
Wendy Wilde tat überhaupt nichts. Sie blieb in den folgenden Sekunden starr vor Schreck stehen und schaute auf die heranwirbelnden Körper der braungrauen Nager.
Diese Tiere ekelten sie an. Sie warfen sich immer weiter vor. Nur mehr Sekunden würde es dauern, bis sie das Mädchen erreicht hatten und an ihm hochspringen konnten.
Ein Zittern rann durch die schlanke Gestalt. Wendy fühlte sich eingekreist und umzingelt. Sie glaubte, bereits die Bisse der Nager durch den dünnen Stoff des Trikots zu spüren.
Der Weg nach vorn war ihr versperrt. Nur die andere Seite zählte noch. Wendy brauchte sich nicht zu drehen. Sie beherrschte das Rückwärtslaufen ebenfalls perfekt, behielt die Ratten im Auge, die Schwierigkeiten mit dem glatten Eis hatten, und drehte sich erst um, als die Distanz zwischen ihnen größer
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