057 - Schreckensmahl
einem
öden, menschenverlassenen Nest begegnen. Ein Mädchen mit der Figur einer
Göttin.
Sie konnte ein paar Worte englisch, damit aber kam er
nicht weit. So kramte er seine französischen Schulkenntnisse heraus und mit der
Verständigung klappte es schon besser.
»Leider haben wir keine Angestellten, Monsieur.« Sie
sprach leise und mit Bedacht. »Die Arbeit, die hier anfällt ist minimal.
Die meisten Bauern, die Autos und Traktoren fahren,
reparieren ihre Schäden selbst oder gehen in das Nachbardorf.«
»Das ist dumm von ihnen.« Er lächelte.
»Die Menschen hier sind merkwürdig. Da kann man nichts
dran ändern.« Madelaine ließ es sich nicht nehmen, dem Deutschen behilflich zu
sein und den Wagen bis zur Tankstelle zu schieben. »Wir sind keine
Einheimischen. Das mag mit ein Grund sein, weshalb man uns meidet. Meine Mutter
und ich sind vor fünfzehn Jahren hierher gezogen. Wir übernahmen die Tankstelle
in Pacht. Später, als der Vermieter starb, ein alleinstehender, älterer Mann,
hinterließ er uns in seinem Testament das Haus. Meine Mutter hatte es schon
sehr schwer, noch bevor ich auf die Welt kam. Sie hoffte immer, in die
Dorfgemeinschaft hineinzuwachsen. Aber ihre Hoffnung hat sich nie erfüllt. Bis
heute meidet man uns, unterstützt uns nicht, mag uns nicht.«
Solkan schüttelte den Kopf. »Wie Sie das hier nur
aushalten können«, bemerkte er und sah sich um. Alte Fachwerkhäuser, eine
schmale staubige Dorfstraße. Nach Mist riechende Höfe.
Weit und breit keine Menschenseele. »Warum ziehen Sie
nicht woanders hin?«
Sie seufzte. »Ja, warum nicht? Das ist leichter gesagt
als getan. Mutter geht es nicht besonders gut. Sie ist schon sehr alt und
pflegebedürftig. Sie würde einen Umzug nicht überstehen.« Trauer war in den
dunkeln Augen der fremden Schönen zu lesen.
»Aber reden wir von etwas anderem«, sprang sie plötzlich
um, noch ehe er etwas auf ihre Bemerkung sagen konnte.
»Versuchen wir, Ihren Wagen wieder flottzukriegen. Ich
werde Ihnen dabei behilflich sein.«
Lächelnd öffnete sie die breite Werkstattür. Eine
ehemalige Scheune war zur Reparaturwerkstatt geworden. Kisten und Fässer
standen in dunklen Ecken. Auf den Regalen lagen wahllos durcheinander die
Werkzeuge, dick verstaubt. Auf den ersten Blick sah man, daß hier ein Mann
fehlte, daß viele Geräte schon seit Jahren nicht mehr benutzt wurden.
Links stand ein Turm aus leeren Benzinkanistern und
wahllos lagen Öldosen herum.
Nach einer ersten Inspektion wurde Solkan sich bewußt,
daß der Fehler offensichtlich komplizierter war, als er zunächst gehofft hatte.
Er mußte warten, bis wieder Tageslicht war.
Der hereinbrechende Abend war kein idealer Zeitpunkt,
jetzt in dieser finsteren Garage, in der es kein elektrisches Licht gab, eine
Autoreparatur durchzuführen. Unter anderen Voraussetzungen hätte er sich
darüber geärgert.
Jede unnötige Verzögerung verkürzte seinen Aufenthalt an
der Küste. Aber seltsam: die Tatsache, daß er diese Nacht in diesem öden Dorf
verbringen mußte, störte ihn wenig.
»Da vorn, die kleine Hotel-Pension«, sagte Madelaine mit
leiser Stimme, und er spürte die verlockende Nähe dieses schönen Körpers, der
selbst in der einfachen blauen Arbeitsschürze nichts von seinem Reiz verlor.
»Da finden Sie bestimmt noch ein Zimmer.«
»Davon bin ich überzeugt«, entgegnete Solkan. »Fremde
wird es wohl kaum hier geben.«
»Das stimmt. Nur selten verirrt sich jemand hierher.«
Rolf Solkan gestand sich im stillen ein, daß dieses
schmutzige Nest eigentlich gar nicht so abstoßend war. Die Nähe von Madelaine
wog alles auf. Er sah ihr in die Augen. Madelaine erwiderte seinen Blick, und
mit einem Male schien es ihn, als erriete sie seine Gedanken. Eine leichte Röte
überzog ihr Antlitz.
»Dann wünsche ich Ihnen eine schöne gute Nacht,
Monsieur«, sagte sie leise. »Ich muß nach meiner Mutter sehen. Sie ist schon so
lange allein.« Sie reichte ihm die Hand. Die schlanken, zarten Finger lagen
warm in seiner Hand, und ein süßer Schauer durchrieselte ihn. Solkan schalt
sich im stillen einen Narren. Er benahm sich wie ein Pennäler, der vor seinem
ersten Kuß stand. Die Nähe dieses blutjungen Mädchens, das eben erst zwanzig
sein mochte, strahlte einen unerklärlichen Zauber auf ihn aus. Am liebsten
hätte er sie in die Arme genommen und geküßt. Ihre feuchten, leicht geöffneten
Lippen lockten ihn. Sekundenlang schwamm Rolf Solkan in einem Gefühl der
Verwirrung und der
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