0573 - Der uralte Henker
Dämon.
Mit der rechten Hand umschloß er den Schwertgriff. Die linke aber hob er an, als wollte er mich grüßen. Doch er tat es in diesem Fall mit Worten.
»Ich habe auf dich gewartet, John Sinclair…«
***
Das war natürlich der Hammer, der Klopfer, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Er hatte auf mich gewartet, ich nicht auf ihn, weshalb wollte er mich haben?
»Du, Lorenzo?«
»Ja.«
»Kennst du mich?«
»Nein!« erwiderte er mit einer dumpfen Grabesstimme. »Ich kenne dich nicht. Aber ich will dich näher kennenlernen, denn es ist von dir gesprochen worden.«
»Wie schön. Was aber, wenn ich dich nicht näher kennenlernen will? Wenn ich es ablehne.«
»Du wirst es müssen!«
»Tatsächlich?«
»Ja, wenn du nicht tust, was ich will, werde ich die Menschen der Reihe nach töten.«
Diese Worte erinnerten mich daran, mich auch mit den am langen Tisch hockenden Mönchen zu beschäftigen.
Ich hätte schon näher an sie herangehen müssen, um genau zu wissen, was mit ihnen los war. Sie rührten sich nicht, hockten da und starrten ins Leere, als würden sie unter Drogen stehen.
Das gefiel mir nicht…
Lorenzo mußte einen Bann um sie geschlagen haben. Dieser Henker schien mehr Kräfte zu besitzen als nur eben den Einsatz der rohen Gewalt. Ich erinnerte mich wieder an die schwarze Wolke, von der Bernardo gesprochen hatte. Sollte der Spuk tatsächlich im Hintergrund lauern, mußte ich äußerst vorsichtig sein.
»Hast du mich gehört?«
»Sicher, Henker, sicher. Was haben dir die Menschen getan? Weshalb willst du sie töten?«
Er lachte roh. »Mir haben sie nichts getan. Mir geht es um etwas ganz anderes.« Er bewegte die rechte Hand und hob das schwere Richtschwert mit einer spielerisch anmutenden Bewegung an. Dann schwang er es so weit nach links, daß die geschliffene Seite beinahe die Lehne des ihm am nächsten sitzenden Mönchs berührte. »Ich will dich, Sinclair. Dich ganz allein. Hast du das noch immer nicht begriffen?«
»Jetzt ja.«
»Dann verlaß deinen Platz dort oben und komm her. Ich will, daß du zu mir kommst.«
»Was geschieht dann?«
Ich hätte nicht fragen sollen, denn Lorenzo kannte keine Geduld.
Sehen konnte ich es nicht, aber er mußte die Klinge um eine Idee bewegt haben, denn am Hals des Mönchs entstand plötzlich ein dunkler Streifen…
Blut…
Ich ballte die Hände zu Fäusten. Ein rasender Zorn toste in mir hoch, und ich wäre am liebsten über das Geländer hinweg in die Tiefe gesprungen, um mir den Henker vorzuknöpfen, aber ich ließ es bleiben.
»Noch lebt er, Sinclair…«
»Gut, ich komme. Nimm das Schwert von seinem Hals.«
»Erst wenn du hier unten bist.«
»Dieser Teufel!« flüsterte Bernardo hinter mir. »Dieser widerliche Teufel.«
»Laß ihn«, gab ich ruhig zurück.
Ich näherte mich der Treppe. Es waren nicht einfach Stufen. Sie kamen mir vor wie der Weg zum Schafott, zum letzten Kommando, bis hin zu dem Augenblick, wo der Delinquent noch einen Wunsch äußern konnte und eine Zigarette verlangte.
Das Kloster diente nur als Kulisse, reine Staffage. Tatsächlich war es der Person da unten um mich allein gegangen.
Wieso um mich? Was hatte ich ihm überhaupt getan? Ich kannte ihn nicht, ich sah ihn zum erstenmal überhaupt. Wie war er auf meinen Namen gekommen?
Klar, es hatte sich in den dämonischen Kreisen herumgesprochen, daß ich als Nummer eins auf der Totenliste stand. Ganz oben, weiter ging es nicht mehr.
Aus der Ferne hatte es so ausgesehen, als wären die Stufen in Stein gehauen worden. Ein Irrtum. Sie bestanden aus Holz. Die Bohlen bewegten sich unter meinem Gewicht, gaben Laute von sich, die an das Schreien gequälter Seelen erinnerten.
Ich ließ meine rechte Handfläche über das Geländer gleiten. In den breiten Lauf war eine Mulde eingefräßt worden.
Stufe für Stufe näherte ich mich dem Ende der Treppe. Der Henker hatte seine Haltung nicht verändert und auch das Schwert nicht vom Hals des Mönchs zurückgezogen.
Die anderen Brüder rührten sich ebenfalls nicht. Ihre Hände lagen flach auf der dunklen Tischplatte.
Über der Schwertklinge schimmerte das Gesicht wie ein blasses Gemälde mit dunklen Flecken darin, den Augen. Der Mönch hatte den Mund geöffnet. Das aus der Halswunde austretende Blut versickerte in der Kutte.
Ich verließ die letzte Stufe. Die Schuhsohle schleifte über einen braunroten Steinboden. Im Gegensatz dazu sahen die Wände grau und glatt aus, vergleichbar mit einer großen Kinoleinwand.
Die Fenster
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