0573 - Der uralte Henker
wenn auch ein schlimmes. Sollte es etwa so gewesen sein, daß keiner der Mönche überlebt hatte?
Ich untersuchte die Lache. Auf ihrer Oberfläche befand sich eine dünne Haut, und das Blut breitete sich nicht nur auf dem Boden aus, ich entdeckte es auch an der Wand.
Ich setzte meinen Weg fort. Diesmal mit einem Gefühl der noch größeren Vorsicht.
Wer immer das getan haben mochte, er konnte sich durchaus in dem Komplex versteckt halten.
Eine Tür stoppte mich. Als ich sie aufschob, hielt ich die Waffe schußbereit. Irgend etwas war da, das spürte ich genau. Eigentlich hatte ich erwartet, in eine Halle zu kommen, doch es war nur ein Mittelstück zwischen zwei Klostertrakten.
Nicht mehr als ein etwas zu breit geratenes Zimmer. Durch ein schmales Fenster sickerte Licht. Sein heller Streifen reichte bis hin zur gegenüberliegenden Wand und erfaßte dort eine alte Truhe.
Einen weiteren Einrichtungsgegenstand sah ich nicht.
Ich gönnte der Truhe auch nicht mehr als einen Blick und war schon fast an ihr vorbei, als ich das Knarren hörte.
Es war ein unangenehmes Geräusch, das mir eine Gänsehaut über den Rücken schob.
Ich drehte mich, zog die Waffe und zielte gegen die Truhe. Nur von ihr konnte dieser Laut stammen. Es stimmte.
Jemand steckte darin und hatte den Deckel bereits so weit in die Höhe gedrückt, daß ich sein blasses Gesicht innerhalb des Ausschnitts erkennen konnte.
Es war das Gesicht eines Mönches, der erschrak, als ich die Mündung der Waffe auf ihn richtete…
***
»Kommen Sie da raus!« sagte ich mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete.
Er rührte sich in den folgenden Sekunden nicht. Erst als er sah, daß ich ihn noch einmal ansprechen wollte, bewegte er seine Hand und legte den Finger auf die Lippen.
Die Geste zeigte mir an, daß er mir wohl nicht an den Kragen wollte. Wahrscheinlich hatte er mehr Angst als Vaterlandsliebe. Er winkelte den Arm an, als er ihn hob, und drückte den Truhendeckel so weit nach oben, daß er aus seinem Gefängnis klettern konnte.
Der Mann trug eine Kutte. Als ich das erkannte, war ich irgendwie froh, endlich einen der Bewohner des Klosters zu sehen, zumal lebte dieser Mönch. Vorsichtig klappte er den Deckel wieder zu, auch als er auf mich zuging, verursachte er so gut wie keine Geräusche. Vor mir blieb er stehen, atmete tief durch und schaute mich an.
Der Mönch war ungefähr so groß wie ich. Er hatte dunkles, gescheiteltes Haar. In den ebenfalls dunklen Augen las ich Erleichterung, gepaart mit Furcht. Das Gesicht war blaß, die Wangenknochen stachen hervor, und auf dem geraden Nasenrücken glänzten kleine Schweißperlen. An der Wärme konnte es nicht liegen, denn in den Räumen war es ziemlich kühl.
Er sprach mich sofort in einem vertrauten Tonfall an. »Du mußt John Sinclair sein. Mein Freund Ignatius hat dich so beschrieben.«
»Ja, das stimmt.« Ich lächelte. »Dann habe ich es bei dir mit Padre Bernardo zu tun.«
»Das ist richtig.«
Wir beide unterhielten uns auf deutsch, weil er mich in dieser Sprache angesprochen hatte. »Ich möchte dich bitten, nicht so laut zu reden.«
»Ja, mache ich.«
»Du wirst dich gewundert haben«, flüsterte er, »daß niemand gekommen ist, um dich zu begrüßen.«
»In der Tat.«
Er nickte. »Wir hätten es gern getan, aber wir konnten es nicht, denn er war schneller.«
»Wer?«
»Lorenzo, der Henker!«
Ich starrte ihn an. »Dann ist es hier?«
»Ja. Er kam wie aus dem Nichts, stand plötzlich in unseren Mauern. Er hat das Kloster als Einzelperson besetzt. Es war schlimm, wir konnten nichts dagegen tun, zumal er mit einem mörderischen Schwert bewaffnet ist. Unser Abt hat es versucht…« Bernardo senkte den Kopf und faltete die Hände.
Ich ahnte zwar etwas, fragte trotzdem noch einmal nach. »Ich sah eine Blutlache im Gang…«
»Ja, er hat es versucht, aber der Henker kannte keine Gnade. Er tötete den Abt.«
»Und weiter?«
»Wir mußten ihn in die Schlucht werfen. Sie befindet sich hinter dem Kloster.«
Ich räusperte mich. Was ich da erfahren hatte, sah nicht gut aus.
Die Frage nach den übrigen Mönchen kam mir kaum über die Lippen.
»Die Brüder leben!« erklärte Bernardo. »Sie befinden sich nur unter der Kontrolle des Henkers.«
»Wie sieht das aus?«
Auf seinen Lippen erschien ein verlorenes Lächeln. »Keine Sorge, John, du wirst es gleich sehen. Jedenfalls ist Lorenzo gekommen und hat die Kontrolle übernommen.«
»Was will er?« fragte ich.
Bernardo verdrehte die
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